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Simulakren

Exit Wonderland

Wir schreiben das frühe 22. Jahrhundert, und die Vereinigten Staaten von Amerika (ganz zu schweigen vom Rest der Welt) befinden sich nicht unbedingt im Bestzustand. Insbesondere die vergangenen 50 Jahre haben es nicht gut gemeint mit der einstmals „großartigsten Nation“ der Welt. Die kombinierte Gewalt von drei verschiedenen Desastern, bestehend aus den Folgen der globalen Erwärmung, einer menschengemachten Seuche sowie eines brutalen Bürgerkriegs, hat einen Großteil der (überlebenden) Bürger zu Flüchtlingen gemacht.

China und das fiktive nordafrikanische Bouazizireich beherrschen die Welt. Der steigende Meeresspiegel hat die Ostküste der USA in ein Sumpfgebiet verwandelt; Augusta, die zweitgrößte Stadt Georgias und auf den Landkarten unserer Gegenwart 200 Kilometer von der Küste entfernt, ist dieser zukünftigen Tage ein wichtiger Seehafen. Unzählige US-Amerikaner sind einem Virus zum Opfer gefallen und die überlebenden Infizierten fristen ihr Dasein in ummauerter und militärisch gesicherter Quarantäne – jeder, der versucht, dem Sperrgebiet zu entkommen, wird ohne Vorwarnung erschossen.

Jenes Virus wurde während einer Wiedervereinigungszeremonie, die eigentlich das Ende der Leiden des Zweiten Amerikanischen Bürgerkriegs (den der Norden ein weiteres Mal gewann) markieren sollte, von südstaatlichen Terroristen freigesetzt und führte in den folgenden Jahren zu weiteren 110 Millionen Todesopfern.

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Es sind ja immer nur bestimmte Bilder, die haften bleiben. Und es ist eine Wissenschaft, über Momente zu sprechen, die aufgrund ihrer spezifischen Zusammensetzung einen Platz bewahrenswerter Einzigartigkeit zugewiesen bekommen, in der Erinnerung. Ihre Wertigkeit bestimmen sie selbst.

Ein sanfter Wind weht, von draußen, vom offenen Meer her, er ist warm und schafft es gerade so, unangestrengt die Häupter der Palmen in ein leichtes Schwingen zu versetzen. Es ist fast vollkommen still, nur die Wellen plätschern leise, fast zaghaft, und aus weiter Ferne, von irgendwo hinter den Hügeln, vermögen nur vereinzelte Fetzen von Sprache und Musik uns zu erreichen, abgehackt und unverständlich. In keiner der umstehenden Hütten brennt Licht, und so liegt die gesamte Bucht im Glanz des Mondes, silbrig angestrahlt, erstaunlich hell. Zwischen zerfließenden und immer neu entstehenden Ringen, Kreisen und Ellipsen wiegen sich leicht die Boote, fast unbemerkt, im angehaltenen Atem des Wassers hin und her.

[Fundstück, ca. 2001]

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WTC 1

When the numbers get so high
Of the dead flying through the sky
O, I don’t know why
Love comes to me
Love comes to me

Wie es denn dann ganz praktisch war; materiell – die roten Stücke Fleisch überall, zwischen den Resten von allem, was einmal Zusammenhang hieß und stiftete. Die roten Spuren, und (ebenso) überall der Staub, Schlieren, Glas, Gehirn, das Vorher und das Nachher und die Frage, was man zeigen sollte und wer denn hier das „darf“ definiert. Jeder Fleischrest war einmal Teil von etwas, das „Ich“ sagen konnte, dies nun aber nicht mehr tut. Schuld daran ist weder ein System (in keiner von Menschen definierten, gesetzten Kategorie wie Himmelsrichtung, Kulturkreis oder Religion), noch irgendein Subjekt innerhalb dieser Referenzbezüge, sondern bloß die überall gleiche Conditio Humana, die es sich selbst zumeist versagt, mehr meta zu denken, als es zum bloßen Überleben braucht. Auch wenn dies manchmal eben nicht für alle gilt, sowohl das mit dem Denken wie auch das mit dem Überleben, wobei es oft, aber auch wiederum nicht immer miteinander korrespondiert. Zu weit gehen ist eine Frage der Definition des Begriffes der Grenze.

Abstraktion und Praxis, die Masse und das Individuum, das Rhizom und dessen Zusammenhänge, die Unfähigkeit der meisten Subjekte, überhaupt eine Vorstellung von einer umgreifenden Struktur zu entwickeln, geschweige denn, von dort aus begreifen zu können, dass diese Struktur nicht statisch, sondern hochdynamisch ist.

Die Unterkomplexität als Voraussetzung des Glücks im Sinne des gemeinsamen Nenners der meisten, das Referenzsystem der Nivellierung, das Einpegeln auf dem mittleren Grad.

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Vielleicht, weil es dich nur als den Einen gibt, hinter dem das Viele liegt.

WTC 2 WTC 3 WTC 4
WTC 5 WTC 6 WTC 7
WTC 8 WTC 9 WTC 10

 

Bildquelle: Anonymous / documentingreality.com
See also: Die Appropriation des Anderen

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Kimono

Gesa Johanna Roskamp: KIMONO, 2006, Öl auf Segeltuch, 55 x 68 x 16 cm

Will man Gesa Johanna Roskamp in ihrem Atelier besuchen, so muss man weit in den Norden Berlins fahren. Dort befindet sich, an einer großen Einfallstraße, umringt von geduckten Plattenbauten, ein altes Gebäude aus früher DDR-Zeit, in dessen Hohlräumen wahrscheinlich der Asbest tanzt und bestimmt die Geschichte. Nach der Wende bot es für einige Zeit diversen Exotenfächern der Humboldt-Universität Obdach, wovon noch die Beschriftungen an manchen aufgelassenen Räumen zeugen, deren Anblick teilweise jedoch auch an ganz andere Umstände erinnert. Es gibt lange, linoleumbedeckte Flure, leere Zimmer, alte Telefone, zurückgelassene Dekorationen, Unmengen toter Fliegen vor kalten Heizkörpern, hier einen Papierkorb, dort einen Wandkalender von 2002, abgerissene Jalousien, einen halb übermalten Zeitungsausriss mit dem Bild Christoph Schlingensiefs, Blumentapeten aus den 60ern, einen Transformator in der sonst ausgeräumten Pförtnerloge, einen holzgetäfelten Aufzug. Abstruse Formen des Kunstschaffens und der Lagerkultur. Von irgendwoher Musik.

Nach dem Abzug der Akademiker vermittelte die Kunsthochschule Weißensee ihren Studenten hier günstige Atelierräume und mittlerweile lassen sich diese frei von der Baugenossenschaft mieten. Auf der ersten Etage befinden sich die Räumlichkeiten eines privaten Archäologieunternehmens, das im Auftrag des Landesdenkmalamtes Grabungen nahe des Alexanderplatzes leitet, wo bei Aushebungen für ein unterirdisches Parkhaus im letzten Jahr die Überreste eines Friedhofs aus dem 18. Jahrhundert gefunden wurden. An den Wänden hängen kopierte Stadtpläne mit orangefarben markierten Grabungsstätten, an einer Tür klebt der Hinweis: „Funde von St. Georgenkirche bitte in den Raum 260 im Flur ganz hinten links“. Bis vor Kurzem lagerte hier noch eine große Zahl menschlicher Knochen, nach anatomischen Kategorien sortiert, ihre letzte Hülle seit Jahrhunderten längst abgelegt.

Auf eben diesem Flur, inmitten all dessen, befindet sich, einer Oase gleich, Gesa Roskamps Atelier. Auch sie, 1982 in Ostercappeln geboren, einem kleinen Ort bei Osnabrück, ist auf Vermittlung ihrer Alma Mater Weißensee, wo sie zunächst bei Katharina Grosse studierte und später dann bei Antje Majewski, hierher geraten. 2008 war ihr Meisterschülerinnenjahr. Ihr kleiner Raum geht zur Straße hinaus und vormittags ist das Licht am besten. Es gibt einen Tisch, zwei Stühle und diverse Regale voller Malutensilien. Und natürlich Leinwände, viele Leinwände, auf denen Farbe ist und Dinge sich zeigen. Dinge, die man nicht sieht. Gesa Roskamp malt keine Porträts, sondern verhüllte Körper, die wiederum nur Platzhalter sind für das, was sich hinter und in ihnen verbirgt.Der uralte Diskurs von Verhüllen und Enthüllen, von Sichtbar und Unsichtbar zeigt sich in einer ganz neuen, anderen Variante.

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Rötha

Hans-Christian Schink: Auswahl aus der Serie Rötha, C-Print/Diasec, je 49,5 x 58 cm und 58 x 49,5 cm, 2000. Ausstellungsansicht. © ZERN // Jens Pfeifer: Auswahl aus der Serie Hinterwäldler, Aluminium, verschiedene Formate, 2005. Ausstellungsansicht. © ZERN

Jean Baudrillard schreibt in Die Hölle des Gleichen: „Wer klont, zeugt nicht“. Zwar sind die Reihenhäuser in Hans-Christian Schinks (*1961) Serie Rötha keine aus Spendermaterial erzeugten Ableger im Sinne des biologischen Begriffs, jedoch sind sie Architektur gewordene Anverwandte des verschwundenen Subjektes, dessen Tod der baudrillardsche Text beschwört.

Natürlich zeigt sich in der wiederholenden Gleichheit auch die Differenz in Form der kleinen Details, die der Betrachter beim näheren Hinsehen bemerkt, eine Holzbank, ein Plüschtier im Fenster, die Farbe des Rasens – jedoch verweisen diese vorgeblichen Unterschiede in einer Art Rückkopplung gleichsam noch stärker auf den Verlust jeglicher Individualität.

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