Zwischen den Welten
Die beste Position, um all die Strukturen und alltäglichen Kleinigkeiten zu erkennen, die eine Kultur ausmachen und die man selbst innerhalb der selben kaum mehr wahrnimmt, ist paradoxerweise die des Außenseiters. Oder, anders gesagt: die, die am wenigsten zuhause sind in einer Kultur, sind oft diejenigen, die sie am besten beschreiben können.
Dies zeigt auch der dritte Roman der aus Nigeria stammenden Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Denn sie selbst hat, wie ihre Protagonistin Ifemelu, einen Großteil ihres Erwachsenenlebens in den USA verbracht und wurde dort zu einer präzisen Beobachterin besagter Eigenheiten und deren Auswirkungen auf das tägliche Dasein. Insbesondere natürlich, wenn es um den Vergleich rassenspezifischer Hierarchien in den Vereinigten Staaten mit den sozialen Gegebenheiten in ihrem Heimatland geht. Dies geschieht mit schonungsloser Offenheit, was sowohl die schönen wie auch die hässlichen Aspekte beider Nationen betrifft.
Americanah verhandelt dieses Beobachten anhand der Geschichte von Ifemelu und Obinze, die als Jugendliche ein Liebespaar waren. Die beiden Kinder der englischsprachigen gehobenen Mittelschicht Nigerias verlieben sich als Teenager ineinander; als Ifemelu jedoch ein Studium in den USA beginnt, trennen sich ihre Wege. Ebenso wie die Autorin gehört ihre Protagonistin zu einem neuen Typ von Migranten, die nicht einer sozialen Notsituation entfliehen müssen, sondern „gut genährt und bewässert, aber steckengeblieben in Unzufriedenheit“ sind und „der unterdrückenden Lethargie der Perspektivlosigkeit“ entkommen wollen.
Dies scheint auch, zumindest für Ifemelu, gut zu funktionieren. Sie erhält (ebenfalls eine Gemeinsamkeit mit der Autorin) ein Stipendium in Princeton, etabliert sich im akademischen Betrieb und führt eine Beziehung mit einem Yale-Professor. Dass sie dabei jedoch die Sehnsucht nach ihrer Heimat nie ablegen kann, liegt auch daran, dass sie sich in gewisser Weise in eine andere verwandelt hat, seit sie Lagos verließ: nämlich in eine Schwarze. In Nigeria hatte sie das nie gespürt.
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Erst die alltägliche Konfrontation mit einem hochkomplexen rassistischen System, das beispielsweise zwischen Kategorien wie „African-Americans“ und „American-Africans“ unterscheidet, vermittelt ihr ein Gefühl dafür, was es eigentlich heißen kann, schwarz zu sein. Dies analysiert sie dann auch in ihrem erfolgreichen Weblog namens Raceteenth und zwar aus eben jener speziellen Perspektive, die zugleich ein Außerhalb und ein Innerhalb ist.
Jedoch bedingt diese Position zwischen den Kulturen zugleich, dass Ifemelu für Familie und Freunde in der Heimat inzwischen zur „Americanah“ geworden ist. So nennt man in Nigeria jene, die aus den USA zurückkehren und feststellen müssen, dass sie sich während ihrer Abwesenheit von den Zuständen vor Ort entfremdet haben.
Denn die Heimkehr und die damit verbundene Frage nach der Möglichkeit, das Verlorene wiederzufinden sind ein weiterer thematischer Aspekt des Romans. Nach 13 Jahren zwischen den Welten nämlich beschließt Ifemelu endgültig, wieder nach Lagos zu gehen, nicht zuletzt wegen der nur halb eingestandenen, doch noch immer latent vorhandenen Liebe zu Obinze.
Dessen parallel geschilderten Erlebnisse erzählen eine eher klassisch negative Migrationsgeschichte: mit einem sechsmonatigen Touristenvisum reist er nach Großbritannien und versucht dort erfolglos, auch noch nach dem Ablaufen des selbigen, Fuß zu fassen und wird schließlich als illegaler Einwanderer aufgegriffen und nach Nigeria deportiert. Zwar gelingt ihm dort eine erfolgreiche Karriere im Immobiliengeschäft, die schließlich zu einem schicken Haus nebst hübscher Frau und Tochter führt, aber auch er ist unzufrieden mit seinem Leben, als Ifemelu beschließt, wieder nach Nigeria zu gehen.
Obinze jedoch erkennt seine Jugendliebe, als er ihr Blog liest, genauso wenig wieder wie diese, als sie zurückkehrt, ihr Land: „War es immer so“, fragt sie sich, „oder hat sich in ihrer Abwesenheit so viel verändert?“ Oder liegt es an ihr? Sie sähe jetzt, sagt ihr eine Freundin, die Dinge mit den Augen einer Amerikanerin. „Aber das Problem ist, dass du nicht einmal eine richtige Americanah bist. Wenn du wenigstens einen amerikanischen Akzent hättest, würden wir deine Beschwerden tolerieren.“
Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. Fischer 2014.
Erschienen in: der Freitag 17 / 2014, S. 25