— Paragraphien

Metaphorische Gewässer

The Hyena & Other Men

Der heutige Staat Nigeria ist nicht mehr als eine Erfindung britischer Offiziere, die im Jahre 1861 ein paar Linien auf der Landkarte zogen und das so umrissene Gebiet nach einem ebenfalls willkürlich benannten Fluss tauften, der durch es hindurchfließt. Nicht unbedingt ein sinnvoll identitätsstiftender Gründungsakt, denn in vorkolonialer Zeit existierten innerhalb dieser Grenzen so verschiedene Staaten wie die Yoruba-Königreiche Oyo und Ife im Süden, Benin im Südwesten, das Kalifat von Sokoto im Nordwesten und die Emirate der Hausa im Norden, jedoch ebenfalls Gesellschaftsformen ganz ohne zentrale politische Autorität.

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Land, bei dessen Erschaffung weder auf naturräumliche, noch sprachliche oder kulturelle Gegebenheiten Rücksicht genommen wurde, nach Erlangung seiner Unabhängigkeit anno 1960 in einem veritablen postkolonialen Chaos versank. Gewissermaßen gibt es Nigeria eigentlich gar nicht, und auch keine Nigerianier. Eine gemeinsame Identität als etwas kulturell über einen langen Zeitraum Gewachsenes ist beim besten Willen nicht erkennbar.

[…]

Nach einer kurzen Episode mit föderaler Verfassung gaben sich zwischen 1966 und 1998 mehrere Militärdiktaturen die Klinke in die Hand, eine brutaler als die andere. Statt das Land zu stabilisieren, verstärkte ein massiver Ölboom in den 1970er-Jahren diese Zustände noch. Und auch nach der Demokratisierung Ende des 20. Jahrhunderts sieht sich Nigeria weiterhin starken innenpolitischen Unruhen ausgesetzt, die bis heute andauern.

Ein bezeichnendes Beispiel für diese Instabilität sind die immer wieder vorkommenden Öl-Raubzüge, bei denen Banden Pipelines anzapfen und das so entwendete Öl auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Da dies sehr oft unter Billigung der Bevölkerung geschieht, kommt es häufig zu Menschenansammlungen an den illegalen Entnahmestellen, wobei es, ausgelöst durch Funkenbildung, schon eine Vielzahl von Explosionen gab, die teilweise mehrere hundert Menschenleben forderten.

Vor diesem Hintergrund erzählt das Debüt von Chigozie Obioma, der 1986 im nigerianischen Akure geboren wurde, aus der Perspektive des neunjährigen Benjamin die Geschichte von vier Brüdern, deren Vater von seinem Arbeitgeber, einer großen Bankgesellschaft, während der 1990er-Jahre in eine weit entfernte Stadt versetzt wird. Dadurch in gewisser Weise plötzlich für sich selbst und ihre Mutter verantwortlich geworden, gehen die Geschwister an dem Fluss fischen, der sich durch ihre Gegend zieht, eine Tätigkeit, die ihnen der nun abwesende Vater immer verboten hatte.

Unter anderem wohl, weil es nahe des mythenumrankten Gewässers einen Ort gibt, dessen Betreten den Bewohnern der Nachbarschaft untersagt ist, weil dort einer lebt, den alle als verrückt bezeichnen. Auf genau diesen treffen die Brüder natürlich, und der seherisch begabte Schamane prophezeit ihnen, dass einer der vier von seinem eigenen Blut getötet werden würde. Diese Voraussagung von tragödischem Ausmaß bringt, ähnlich wie in den Stücken der klassischen Antike, die Dinge auf eine Art und Weise in Bewegung, wie es höchstwahrscheinlich sonst niemals geschehen wäre.

Obioma, der auf Zypern und in den USA studierte, verknüpft in seinem Roman Elemente des Familiendramas mit denen der Fabel und erschafft so ein allegorisches Panorama seines Heimatlandes, das bestimmt nicht ganz zufällig gewisse biographische Übereinstimmungen zwischen Erzählstimme und Autor aufweist.

Auf originelle Art reflektiert dieser Coming-of-Age-Text die Erzähltradition vorhergehender Schriftstellergenerationen der modernen afrikanischen Literatur und gibt ihr dabei einen zeitgenössischen Twist, während er zugleich vermag, den Kontinent mit all seinen ökonomischen, politischen und religiösen Gegensätzen sowie seiner trotz (und teilweise auch gerade wegen) all diesem Chaos existierenden Schönheit einzufangen und abzubilden.

Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss, Aufbau 2015.

 

Erschienen in: der Freitag 10 / 2015, S. 29

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