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Vertraute Fremde

Family Issues

Die Geschichte der Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist, unterbrochen nur von kurzen Blütephasen, größtenteils geprägt von Zwang, Unterdrückung, Pogromen und gewalttätigen Übergriffen. Als Ende der 1980er Jahre eine erneute Welle des Antisemitismus einsetzt, sahen sich viele dazu veranlasst, ihre Heimat nach der Öffnung der Grenzen zu verlassen.

In der BRD trat mit einem Beschluss der Innenministerkonferenz 1991 die sogenannte Kontingentflüchtlingsregelung für Juden aus der sich in Auflösung befindlichen UdSSR in Kraft, die es ermöglichte, einen permanenten Aufenthaltsstatus im wiedervereinigten Deutschland zu erhalten, was eine Arbeitserlaubnis sowie den Zugang zum deutschen Sozial- und Bildungssystem einschloss.

Und so entschieden sich, keine 50 Jahre nach dem Holocaust, rund eine Viertelmillion postsowjetischer Juden, sich ausgerechnet in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Dem Judentum im Kommunismus vielfach entfremdet, erwarteten sie sich bessere Zukunftsperspektiven.

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Einer dieser „Kontingentflüchtlinge“ ist Dmitrij Belkin, der 1993 als Sohn eines jüdischen Vaters aus der Ukraine nach Deutschland kam. Und zwar aus ganz pragmatischen Gründen, da die USA „praktisch dicht zu sein schienen“ und Israel aufgrund der politischen Lage zu instabil. Deutschland hingegen lag quasi „um die Ecke“, weshalb es also nicht hier probieren? Ein Jahr später siedelte auch seine Familie über, zunächst ins schwäbische Reutlingen und später nach Frankfurt am Main.

Nachdem Belkin zunächst in Tübingen sein bereits in der Ukraine begonnenes Studium der Geschichte und Philosophie mit Promotion abgeschlossen hatte, landete er nach diversen akademischen Stationen schließlich beim Jüdischen Museum Frankfurt, wo er als Chefkurator die Ausstellung Ausgerechnet Deutschland! betreute. Diese dokumentierte die Geschichte von 20 Jahren jüdischer Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und stellte dabei zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Biografie und Historie.

Dabei sei es Belkin besonders darum gegangen, wie er in einem Interview sagte, Menschen unterwegs, in Bewegung darzustellen und die Geschichte der vielen Begegnungen und Nichtbegegnungen zwischen Neubürgern und Alteingesessenen zu erzählen. Diese waren durchaus signifikant: Rund 95.000 der Immigranten gehören heute jüdischen Gemeinden an – bei insgesamt etwa 110.000 Mitgliedern. Für die Gemeinden bedeutete die Einwanderungswelle also einen fundamentalen Einschnitt. Eine Minderheit sah sich plötzlich vor der Aufgabe, eine Mehrheit zu integrieren. Dabei prallten prinzipiell sehr unterschiedliche Sichtweisen und Mentalitäten aufeinander.

1989, als die ersten Immigranten in Frankfurt eintrafen, zählte die jüdische Gemeinde 4.842 Mitglieder. Heute sind es rund 6.870. Doch schienen diejenigen, die sich damals plötzlich gegenüberstanden und eine Gemeinschaft bilden sollten, aus völlig verschiedenen Welten zu stammen. Die einen fühlten sich „russisch“, als Sowjetbürger, die anderen merkten erst jetzt, wie deutsch sie im Grunde waren, auch wenn sie sich bislang eher als Fremde im eigenen Land betrachtet hatten. War die „jüdische Klammer“ stark genug, diese ganz unterschiedlichen Menschen zusammenzuhalten?

In seinem Buch Germanija nun erzählt Dmitrij Belkin seine persönliche Geschichte des „Ankommens“ in der BRD – und zugleich auch eine des wiedervereinigten Deutschland. Eines Staates, der zunächst nicht so richtig wusste, wohin mit all diesen jüdischen Russen. Was in gewisser Weise auch zur Gesamtstimmung passte, denn die Deutschen wussten direkt nach der Wende wohl auch nicht so recht, wohin mit sich selbst. Doch auch dies hat sich, soweit möglich, inzwischen einigermaßen zurechtgerüttelt. Germanija ist ein biografisch-politischer Exkurs durch die mannigfaltigen Umbrüche der jüngsten Vergangenheit, der auch hinsichtlich der aktuellen Migrationsbewegungen von Relevanz ist.

Dmitrij Belkin: Germanija, Campus 2016.

 

Erschienen in: der Freitag 38 / 2016