— Paragraphien

Gestern, heute, morgen

Exit Wonderland

Wir schreiben das frühe 22. Jahrhundert, und die Vereinigten Staaten von Amerika (ganz zu schweigen vom Rest der Welt) befinden sich nicht unbedingt im Bestzustand. Insbesondere die vergangenen 50 Jahre haben es nicht gut gemeint mit der einstmals „großartigsten Nation“ der Welt. Die kombinierte Gewalt von drei verschiedenen Desastern, bestehend aus den Folgen der globalen Erwärmung, einer menschengemachten Seuche sowie eines brutalen Bürgerkriegs, hat einen Großteil der (überlebenden) Bürger zu Flüchtlingen gemacht.

China und das fiktive nordafrikanische Bouazizireich beherrschen die Welt. Der steigende Meeresspiegel hat die Ostküste der USA in ein Sumpfgebiet verwandelt; Augusta, die zweitgrößte Stadt Georgias und auf den Landkarten unserer Gegenwart 200 Kilometer von der Küste entfernt, ist dieser zukünftigen Tage ein wichtiger Seehafen. Unzählige US-Amerikaner sind einem Virus zum Opfer gefallen und die überlebenden Infizierten fristen ihr Dasein in ummauerter und militärisch gesicherter Quarantäne – jeder, der versucht, dem Sperrgebiet zu entkommen, wird ohne Vorwarnung erschossen.

Jenes Virus wurde während einer Wiedervereinigungszeremonie, die eigentlich das Ende der Leiden des Zweiten Amerikanischen Bürgerkriegs (den der Norden ein weiteres Mal gewann) markieren sollte, von südstaatlichen Terroristen freigesetzt und führte in den folgenden Jahren zu weiteren 110 Millionen Todesopfern.

[…]

Dies ist das Setting von Omar El Akkads dystopischem, jedoch zugleich auf unheimliche Weise glaubhaften Roman American War. Das Debüt des Kanadiers, der in Kairo geboren wurde, in Katar aufwuchs und heute bei Portland wohnt, spielt zwar in einem fiktiven Zukunftsszenario und rekurriert zugleich auf den Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts – ist aber natürlich in gleichem Maße eine Meditation über die Gegenwart der USA.

Während es zwischen 1861 und 1865 hauptsächlich die Frage der Eigenständigkeit einzelner Bundesstaaten gegenüber der Regierung sowie die der Sklaverei waren, in denen der Konflikt wurzelte, ist bei El Akkad der katastrophale Zustand der Umwelt Auslöser der Geschehnisse. Bzw. der auf diesen Zustand reagierende „Sustainable Futures Act“, den die US-Regierung verabschiedet. Dieser untersagt die Nutzung fossiler Brennstoffe landesweit.

Was nicht nur zu eher amüsanten Episoden wie dem heimlichen Fahren mit (selbst hergestelltem) Benzin, analog den Umständen während der Alkoholprohibition im frühen 20. Jahrhundert führt, sondern auch zur Rebellion und Abspaltung der Südstaaten. Mississippi, Alabama, Georgia und South Carolina schließen sich zum „Free Southern State“ zusammen. Milizen verüben Anschläge und Attentate gegen den Norden, bis dieser schließlich, in jeglicher Hinsicht überlegen, mit völlig unverhältnismäßiger Gewalt zurückschlägt.

Von dieser und all der folgenden Gewalt berichtet dem Leser im Rückblick ein alter Mann, am Krebs sterbend, der irgendwie versucht, durch sein Erzählen mit den Schrecken des Krieges und der ihm folgenden Seuche, soweit dies denn möglich ist, ins Reine zu kommen. Um den Schrecknissen ein persönliches Gesicht zu geben, erzählt er von ihnen anhand des Lebens einer bestimmten Frau, Sarah T. Chestnut, besser bekannt als „Sarat“. Deren Erlebnisse sind exemplarisch für die Leiden all der Millionen anderer.

Nachdem Sarats Vater bei einem terroristischen Anschlag getötet wurde, landet ihre Familie im Elend von „Camp Patience“, einem Flüchtlingslager für Südstaatler. Ihr Bruder wird Kindersoldat in einer Rebellenmiliz, während Sarat unter den nicht unbedingt guten Einfluss eines älteren Mannes gerät. Dieser lehrt sie Schritt um Schritt, den Norden zu hassen und rekrutiert sie so allmählich in ein Leben der Gewalt.

Während der rote Faden der Geschehnisse bei Sarat und ihrer Familie liegt, streut El Akkad immer wieder faszinierende und die Erzählung auf eigenwillige Weise bereichernde „Info“-Happen ein – Medienberichte, akademische Studien, Regierungsberichte und dergleichen, die nochmals andere Blickwinkel auf den Krieg, die Seuche und die Flüchtlinge bieten.

Im Zusammenspiel zeigt sich American War so als eine Reflexion über die Abgründe und die Idiotie des Krieges, über die Millionen von Menschen, die er heimatlos macht und über den Egoismus derer, die es sich noch leisten können, aus ihren gut geschützten Häusern voller Abscheu auf die herabzusehen, die hungrig und verzweifelt vor ihrer Türschwelle stehen.

Omar El Akkad: American War, S. Fischer 2017.

Erschienen in: der Freitag 31 / 2017

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