— Paragraphien

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For a minute there I lost myself

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Es klingelt an der Türe, ich öffne und Werner Herzog, Klaus Kinski sowie 200 peruanische Ureinwohner vom Stamme der Machiguenga stehen davor. Während Kinski grußlos an mir vorbei in den kleinen Raum der Gästetoilette geht, um diesen kniehoch mit Herbstlaub zu befüllen, welches er in einem Jutesack mitgebracht hat, proklamiert Herzog „Die Vögel singen nicht, sie schreien!“, um daraufhin die Ureinwohner ins Wohnzimmer zu führen, wo diese vermittels klobigen Werkzeugs die Wand zum Innenhof einreißen, in dem hinter der so erzeugten Öffnung ein alter, weißgestrichener Flussdampfer sichtbar wird. Während man im Folgenden damit beginnt, eine Art Rampe aus Erde zwischen Hof und Wohnzimmer aufzuschütten, nehme ich meine Schildkröte an die Leine und verschwinde grußlos, kurz noch begleitet vom lautstarken Rascheln hinter der Toilettentüre, im Treppenhaus.

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Käffchen?

Auf einen Kaffee mit…
ROBERT MENASSE

Robert Menasse (*1954) ist ein österreichischer Schriftsteller und Essayist. Für seinen Europaroman „Die Hauptstadt“ wurde er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

crescendo: Herr Menasse, am Beginn Ihres neuen Romans wird eine Sau durch Brüssel getrieben. Was hat es auf sich, mit diesem Tierchen?

Robert Menasse: Dies Tierchen ist natürlich metaphorischer Natur und deckt auf diese Art und Weise quasi vom Glücksschwein bis zur Drecksau alles ab, man kann von gut bis böse alles mit ihm in eine Beziehung setzen. Es kann von Schweinchen Schlau für Intelligenz stehen, ebenso wie es als Schimpfwort für politische Gegner genutzt werden kann. Zudem stimmen 98,8 Prozent seines Genmaterials mit dem des Menschen überein, was mich noch auf einer weiteren Ebene dazu gereizt hat, das Schwein im Prolog der „Hauptstadt“ auftreten zu lassen, in dem die Leser zum ersten Mal den Protagonisten begegnen.

Ich hatte zu dieser Szene auch sofort verschiedene Musiken in meinem inneren Ohr – angefangen bei der klassischen Zirkusmelodie. Wie verhält es sich denn bei Ihnen persönlich mit der Musik?

Nun, ich bin natürlich ein großer Musikliebhaber, aber das allein ist ja eher uninteressant. Interessant ist dabei vielleicht nur eines: Ich bin, glaube ich, einer der ganz wenigen Autoren, die mit Musik schreiben. Ich sitze also nicht in einem stillen Raum und schreibe, sondern ich sitze in einem Raum, in dem ich Musik auflege, die in einem Zusammenhang steht mit dem, was ich schreibe. Das wähle ich mir dann immer aus und sage: So, dies ist jetzt sozusagen der Soundtrack zu meiner Prosa.

[…]

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Exit Wonderland

Wir schreiben das frühe 22. Jahrhundert, und die Vereinigten Staaten von Amerika (ganz zu schweigen vom Rest der Welt) befinden sich nicht unbedingt im Bestzustand. Insbesondere die vergangenen 50 Jahre haben es nicht gut gemeint mit der einstmals „großartigsten Nation“ der Welt. Die kombinierte Gewalt von drei verschiedenen Desastern, bestehend aus den Folgen der globalen Erwärmung, einer menschengemachten Seuche sowie eines brutalen Bürgerkriegs, hat einen Großteil der (überlebenden) Bürger zu Flüchtlingen gemacht.

China und das fiktive nordafrikanische Bouazizireich beherrschen die Welt. Der steigende Meeresspiegel hat die Ostküste der USA in ein Sumpfgebiet verwandelt; Augusta, die zweitgrößte Stadt Georgias und auf den Landkarten unserer Gegenwart 200 Kilometer von der Küste entfernt, ist dieser zukünftigen Tage ein wichtiger Seehafen. Unzählige US-Amerikaner sind einem Virus zum Opfer gefallen und die überlebenden Infizierten fristen ihr Dasein in ummauerter und militärisch gesicherter Quarantäne – jeder, der versucht, dem Sperrgebiet zu entkommen, wird ohne Vorwarnung erschossen.

Jenes Virus wurde während einer Wiedervereinigungszeremonie, die eigentlich das Ende der Leiden des Zweiten Amerikanischen Bürgerkriegs (den der Norden ein weiteres Mal gewann) markieren sollte, von südstaatlichen Terroristen freigesetzt und führte in den folgenden Jahren zu weiteren 110 Millionen Todesopfern.

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Es klingelt an der Türe, ich öffne und Marina Abramović sitzt davor, an einem überdimensionierten Holztisch, auf einem überdimensionierten Holzstuhl, gewandet in ein hochgeschlossenes filzig anmutendes Kleid von bunter Farbe. Sie starrt mich so lange grußlos an, bis ich weinen muss, weil ich plötzlich erkenne, dass „Wollen“ nicht gleichbedeutend ist mit „Sein“, und weder Bücher noch Pyramiden jemals etwas daran ändern können. Dann reicht sie mir einen großen Geldschein als Taschentuch, klappt sowohl Tisch wie auch Stuhl auf eine handliche Koffergröße zusammen und verschwindet mit beidem, weiterhin grußlos, doch nun plötzlich irgendwie bärtig wirkend, im Treppenhaus.

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