— Paragraphien

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Rhizom

Es klingelt an der Türe, ich öffne und Werner Herzog, Klaus Kinski sowie 200 peruanische Ureinwohner vom Stamme der Machiguenga stehen davor. Während Kinski grußlos an mir vorbei in den kleinen Raum der Gästetoilette geht, um diesen kniehoch mit Herbstlaub zu befüllen, welches er in einem Jutesack mitgebracht hat, proklamiert Herzog „Die Vögel singen nicht, sie schreien!“, um daraufhin die Ureinwohner ins Wohnzimmer zu führen, wo diese vermittels klobigen Werkzeugs die Wand zum Innenhof einreißen, in dem hinter der so erzeugten Öffnung ein alter, weißgestrichener Flussdampfer sichtbar wird. Während man im Folgenden damit beginnt, eine Art Rampe aus Erde zwischen Hof und Wohnzimmer aufzuschütten, nehme ich meine Schildkröte an die Leine und verschwinde grußlos, kurz noch begleitet vom lautstarken Rascheln hinter der Toilettentüre, im Treppenhaus.

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Heart of Darkness

Je länger die Amtszeit Donald Trumps andauerte, desto vehementer stellte man sich weltweit, vor allem aber unter US-amerikanischen Liberalen, die Frage: Wie und warum konnte dies eigentlich passieren? Wie konnte es einem Immobilienmakler ohne jede politische Erfahrung gelingen, eine Konkurrentin wie Hillary Clinton zu bezwingen, die das Einmaleins des Politikgeschäfts von Grund auf gelernt hat? Wie war es möglich, dass ausgerechnet ein Sozialdarwinist erster Güte sich erfolgreich zum Kandidaten des einfachen Mannes von der Straße stilisieren konnte?

Hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage ist es eher unwahrscheinlich, dass es schlicht daran lag, dass über 48 Prozent der Wähler bloß dumm, rückständig oder vom russischen Geheimdienst manipuliert waren. Oder daran, dass Hillary Clinton nicht unbedingt die bestmögliche Kandidatin der Demokraten war. So einfach ist der Erfolg von Donald Trump nicht zu erklären.

Vielmehr ist wohl eher ein wenig Selbstkritik im liberalen Lager angebracht: Schließlich haben sich die progressiven Eliten in den vergangenen Jahrzehnten primär mit eher akademischen Fragestellungen wie der nach der kulturellen Hegemonie oder nach sexueller Identität befasst, anstatt mit den Auswirkungen, die ein entfesselter globaler Markt auf die Leben der sozial Benachteiligten hat.

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Exit Wonderland

Wir schreiben das frühe 22. Jahrhundert, und die Vereinigten Staaten von Amerika (ganz zu schweigen vom Rest der Welt) befinden sich nicht unbedingt im Bestzustand. Insbesondere die vergangenen 50 Jahre haben es nicht gut gemeint mit der einstmals „großartigsten Nation“ der Welt. Die kombinierte Gewalt von drei verschiedenen Desastern, bestehend aus den Folgen der globalen Erwärmung, einer menschengemachten Seuche sowie eines brutalen Bürgerkriegs, hat einen Großteil der (überlebenden) Bürger zu Flüchtlingen gemacht.

China und das fiktive nordafrikanische Bouazizireich beherrschen die Welt. Der steigende Meeresspiegel hat die Ostküste der USA in ein Sumpfgebiet verwandelt; Augusta, die zweitgrößte Stadt Georgias und auf den Landkarten unserer Gegenwart 200 Kilometer von der Küste entfernt, ist dieser zukünftigen Tage ein wichtiger Seehafen. Unzählige US-Amerikaner sind einem Virus zum Opfer gefallen und die überlebenden Infizierten fristen ihr Dasein in ummauerter und militärisch gesicherter Quarantäne – jeder, der versucht, dem Sperrgebiet zu entkommen, wird ohne Vorwarnung erschossen.

Jenes Virus wurde während einer Wiedervereinigungszeremonie, die eigentlich das Ende der Leiden des Zweiten Amerikanischen Bürgerkriegs (den der Norden ein weiteres Mal gewann) markieren sollte, von südstaatlichen Terroristen freigesetzt und führte in den folgenden Jahren zu weiteren 110 Millionen Todesopfern.

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Es klingelt an der Türe, ich öffne und Marina Abramović sitzt davor, an einem überdimensionierten Holztisch, auf einem überdimensionierten Holzstuhl, gewandet in ein hochgeschlossenes filzig anmutendes Kleid von bunter Farbe. Sie starrt mich so lange grußlos an, bis ich weinen muss, weil ich plötzlich erkenne, dass „Wollen“ nicht gleichbedeutend ist mit „Sein“, und weder Bücher noch Pyramiden jemals etwas daran ändern können. Dann reicht sie mir einen großen Geldschein als Taschentuch, klappt sowohl Tisch wie auch Stuhl auf eine handliche Koffergröße zusammen und verschwindet mit beidem, weiterhin grußlos, doch nun plötzlich irgendwie bärtig wirkend, im Treppenhaus.

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Katja Hoffmann/Laif

Der Berliner Wedding – ursprünglich bekannt als klassischer Arbeiterbezirk mit Mietskasernen und einem hohen Anteil an sozial Schwachen und Migranten – wurde in den letzten Jahren dank günstiger Mietpreise und Wohnungsleerstandes mehr und mehr von Künstlern und Studenten entdeckt.

Und auch wenn diese Tendenz aufgrund der aktuellen Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt bereits wieder abflaut, gilt weiterhin, dass hier in intensivem Maße ein ursprüngliches Berlin inklusive zugehöriger Schnauze auf zugezogene Menschen unterschiedlichster kultureller Herkunft trifft:

„Das Haus hat acht Stockwerke, 41 Wohnungen, 41 Familien. Unten in die Eingangstür ist ein Klingelschild eingelassen, auf dem nur jeder zehnte Name ein auf den ersten Blick deutscher ist. Hier wohnt Karaman. Hier wohnt Al Sayad. Hier wohnte einmal tatsächlich auch Mohammad unter Bethmann. Die Namen, sie lesen sich wie ein Tableau einer Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sie lesen sich aber auch wie ein Debattenbeitrag zur Integration oder wie der Kader einer zukünftigen Nationalmannschaft. Die Namen, sie sind hier Normalität. Das Haus steht in Berlin-Wedding.“

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