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Die Ränder des Imperiums

Petro Lewschtschenko, "Ein Dorf im Winter", 1905

In der noch jungen Sowjetunion der 1920er-Jahre stellten die ehrgeizigen Industrialisierungsvorhaben, die die Fünfjahrespläne zwischen 1928 und 1937 dominierten, den neuen Generalsekretär Josef Stalin vor erhebliche Probleme, da sie immense Finanzmittel erforderten, welche durch eine Umschichtung des Staatshaushalts allein nicht zu decken waren. Also versuchte man, Erträge aus dem Agrarsektor zu mobilisieren. Die Besteuerung der Bauern wie auch die staatlichen Aufkaufpreise und die Preise für Industrieerzeugnisse wurden erhöht.

Mit absehbaren Folgen: Die Unzufriedenheit der Bauern wuchs, während das staatliche Getreideaufkommen sank, da die Bauern es vorzogen, ihre Überschüsse an sogenannte „Spekulanten“ zu verkaufen, was in einer regelrechten Getreidekrise mündete. Die Staats- und Parteiführung reagierte darauf mit der umfassenden administrativen Kollektivierung der Landwirtschaft.

Im Zuge dieser „Großen Wende“ wurde auch die Liquidierung der kulakischen Landwirtschaftsbetriebe in Angriff genommen. Der Begriff Kulak war im Russischen eine seit dem 19. Jahrhundert verwendete Bezeichnung für relativ wohlhabende Bauern, welche spätestens mit den Bolschewiki pejorativen Charakter bekam und nach und nach auf alle selbständigen Bauern ausgedehnt wurde.

[…]

Insbesondere als wohlhabend geltende bäuerliche Familien, aber auch sogenannte Mittelbauern sowie jene Landbewohner, welche die Politik der KPdSU tatsächlich oder vermeintlich ablehnten, wurden im Rahmen der „Entkulakisierung“ zwischen 1929 und 1932 als Klassenfeinde in Arbeitslager gesteckt oder erschossen. Etwa 2,1 Millionen Menschen wurden in entfernte, unwirtliche Regionen deportiert, weitere 2 bis 2,5 Millionen in ihrer Heimatregion auf schlechtere Böden zwangsumgesiedelt.

Man schätzt, dass dies durch Hunger, Krankheiten und Exekutionen 530.000 bis 600.000 Menschenleben kostete. Die Bauern reagierten insbesondere 1930 mit erheblichem Widerstand gegen die Gewaltkampagne des Staates. Zeitweise fürchtete man, der Protest könne sich zu einem landesweiten Aufstand ausweiten.

Eine der besagten Verbannten war die Großmutter von Gusel Jachina. Basierend auf deren Erfahrungen sowie ausführlichen Recherchen erzählt die Autorin in ihrem Debüt die Geschichte der tatarischen Bäuerin Suleika. Diese wurde im Alter von 15 mit einem erheblich älteren Mann zwangsverheiratet, dem sie zwar vier Kinder schenkte, welche jedoch allesamt kurz nach der Geburt starben. Für Ehemann und herrische Schwiegermutter ist sie nichts als eine Arbeitskraft ohne großen Wert.

Und als ob dies nicht schon genug Unglück sei, bricht dann auch noch die Entkulakisierung über sie herein. Die Familie wird enteignet, der Mann erschossen und Suleika auf einen monatelangen Transport nach Sibirien geschickt, wo sie beim Aufbau einer Siedlung fernab aller Zivilisation mitarbeiten soll, und während dem sie entdeckt, dass sie erneut schwanger ist.

Obwohl Gusel Jachina aus Tatarstan stammt, einer der autonomen Republiken im östlichen Teil des europäischen Russland, die als besonders eigenständig gilt, ist der Roman in russischer Sprache geschrieben – gibt aber trotzdem erstaunlich genau die Lebensweise und Sitten der Tataren zu jener Zeit wider. Gleiches gilt für die Schilderung der unmenschlichen Umstände, unter denen Suleika mit großer Würde am Ufer der sibirischen Angara ihren Sohn zur Welt bringt und im Folgenden alles Mögliche tut, um dessen Überleben zu sichern.

Unter anderem hat wohl auch dies dem Debüt in bester russischer Erzähltradition nationale wie auch internationale Beachtung eingebracht – aktuell wird es in 21 Sprachen übersetzt. Diese Beachtung schlägt sich auch darin nieder, dass die bekannte russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja das Vorwort verfasste, in welchem sie hervorhebt, dass mit Gusel Jachina nun endlich wieder eine Vertreterin einer ethnischen Minderheit zur Bereicherung der russischen Literatur beitrage, einer Tradition, die seit dem Ende der Sowjetunion doch ein wenig in den Hintergrund gerückt sei.

Gusel Jachina: Suleika öffnet die Augen, Aufbau 2017.

 

Erschienen in: der Freitag 8 / 2017