— Paragraphien

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Leviathan

Exit Wonderland

Wir schreiben das frühe 22. Jahrhundert, und die Vereinigten Staaten von Amerika (ganz zu schweigen vom Rest der Welt) befinden sich nicht unbedingt im Bestzustand. Insbesondere die vergangenen 50 Jahre haben es nicht gut gemeint mit der einstmals „großartigsten Nation“ der Welt. Die kombinierte Gewalt von drei verschiedenen Desastern, bestehend aus den Folgen der globalen Erwärmung, einer menschengemachten Seuche sowie eines brutalen Bürgerkriegs, hat einen Großteil der (überlebenden) Bürger zu Flüchtlingen gemacht.

China und das fiktive nordafrikanische Bouazizireich beherrschen die Welt. Der steigende Meeresspiegel hat die Ostküste der USA in ein Sumpfgebiet verwandelt; Augusta, die zweitgrößte Stadt Georgias und auf den Landkarten unserer Gegenwart 200 Kilometer von der Küste entfernt, ist dieser zukünftigen Tage ein wichtiger Seehafen. Unzählige US-Amerikaner sind einem Virus zum Opfer gefallen und die überlebenden Infizierten fristen ihr Dasein in ummauerter und militärisch gesicherter Quarantäne – jeder, der versucht, dem Sperrgebiet zu entkommen, wird ohne Vorwarnung erschossen.

Jenes Virus wurde während einer Wiedervereinigungszeremonie, die eigentlich das Ende der Leiden des Zweiten Amerikanischen Bürgerkriegs (den der Norden ein weiteres Mal gewann) markieren sollte, von südstaatlichen Terroristen freigesetzt und führte in den folgenden Jahren zu weiteren 110 Millionen Todesopfern.

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Petro Lewschtschenko, "Ein Dorf im Winter", 1905

In der noch jungen Sowjetunion der 1920er-Jahre stellten die ehrgeizigen Industrialisierungsvorhaben, die die Fünfjahrespläne zwischen 1928 und 1937 dominierten, den neuen Generalsekretär Josef Stalin vor erhebliche Probleme, da sie immense Finanzmittel erforderten, welche durch eine Umschichtung des Staatshaushalts allein nicht zu decken waren. Also versuchte man, Erträge aus dem Agrarsektor zu mobilisieren. Die Besteuerung der Bauern wie auch die staatlichen Aufkaufpreise und die Preise für Industrieerzeugnisse wurden erhöht.

Mit absehbaren Folgen: Die Unzufriedenheit der Bauern wuchs, während das staatliche Getreideaufkommen sank, da die Bauern es vorzogen, ihre Überschüsse an sogenannte „Spekulanten“ zu verkaufen, was in einer regelrechten Getreidekrise mündete. Die Staats- und Parteiführung reagierte darauf mit der umfassenden administrativen Kollektivierung der Landwirtschaft.

Im Zuge dieser „Großen Wende“ wurde auch die Liquidierung der kulakischen Landwirtschaftsbetriebe in Angriff genommen. Der Begriff Kulak war im Russischen eine seit dem 19. Jahrhundert verwendete Bezeichnung für relativ wohlhabende Bauern, welche spätestens mit den Bolschewiki pejorativen Charakter bekam und nach und nach auf alle selbständigen Bauern ausgedehnt wurde.

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American Dream

„Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten.“

Mit diesen Worten beginnt der Journalist George Packer den Prolog seines ambitionierten Sachbuchs, das in Gestalt einer Collage von Porträts und Stimmen den Zustand einer Nation abbildet, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt in Auflösung begriffen scheint. Die Kernthese dabei ist, dass im Verlauf der vergangenen 35 Jahre die demokratischen Grundwerte der USA von den Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus irreparabel untergraben wurden. Schlimmer noch: Der Sozialvertrag, der seit Franklin D. Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, blieb dabei auf der Strecke: „Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“

Das „neue Amerika“, das in Die Abwicklung sichtbar wird, ist ein Flickenteppich aus gescheiterten Institutionen, betrügerischen Pyramidensystemen, Konkursen, Zwangsvollstreckungen, Unwissenheit und Angst. Das Grundgerüst des Buchs, beruhend auf Packers Reportagen für den New Yorker, sind die breit angelegten Lebensgeschichten „ganz normaler“ US-Bürger, die in ihrem Alltag begleitet werden. Diese Hauptfiguren sind Dean Price, ein Biodieselunternehmer aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio im krisengeschüttelten „Rust Belt“ der Vereinigten Staaten; die von Sozialhilfe lebende Familie Hartzell aus Florida; der zunächst von politischen Idealen geleitete Jeff Connaughton, der sich jedoch zum gutverdienenden Lobbyisten in Washington wandelt; sowie der kalifornische PayPal-Mitgründer Peter Thiel.

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Babylon

„Was soll das denn eigentlich sein, ein Gehirn?“

Wie sich selbst im saturierten Bonner Umland langsam die Flucht und der Verfall zeigen, die aufgelassenen Sandsteinvillen, neonfarben befleckt, mit Fensterläden, die nur noch in einer Angel hängen. Mitten darin wie ein feistes Geschwür der Komplex der Telekom Bonn-Beuel, zwischen den Jahren verwaist, nur im betriebseigenen Fitnessstudio ein einsamer Fahrradsimulationsnutzer. Über dem Portal eines zentralen, sich grau aufblähenden Gebäudes der Schriftzug „Life is Grand“. Direkt an der Bahntrasse stehen die Parkdecks leer, am Transformator wachsen große kreisförmige Grasformationen zwischen schon lange dort liegenden aufgerollten Kabelmänteln. Je weiter man sich von den Stätten der Bonner Republik entfernt, desto höher wird die Frequenz der leeren Ladenlokale und der mit Brettern vernagelten Fenster. In 50 Jahren dann, wenn das Phänomen der Shrinking Cities von seinem einen wuchernden Gegenteil aus den Weiten der Brandenburger Steppen heraus antithetisch eingeholt wird und beide sich an diesem ganz speziellen Schnittpunkt treffen, wird ganz Deutschland von Berlin bedeckt sein und man sich ärgern, dass „Germania“ schon so negativ belegt ist, wenn man einen neuen Namen für diese große gesamturbane Hure finden muss. Auch „Babylon“ wird dann leider schon wieder vergeben sein.

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