— Paragraphien

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Dispositive

Heart of Darkness

Je länger die Amtszeit Donald Trumps andauerte, desto vehementer stellte man sich weltweit, vor allem aber unter US-amerikanischen Liberalen, die Frage: Wie und warum konnte dies eigentlich passieren? Wie konnte es einem Immobilienmakler ohne jede politische Erfahrung gelingen, eine Konkurrentin wie Hillary Clinton zu bezwingen, die das Einmaleins des Politikgeschäfts von Grund auf gelernt hat? Wie war es möglich, dass ausgerechnet ein Sozialdarwinist erster Güte sich erfolgreich zum Kandidaten des einfachen Mannes von der Straße stilisieren konnte?

Hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage ist es eher unwahrscheinlich, dass es schlicht daran lag, dass über 48 Prozent der Wähler bloß dumm, rückständig oder vom russischen Geheimdienst manipuliert waren. Oder daran, dass Hillary Clinton nicht unbedingt die bestmögliche Kandidatin der Demokraten war. So einfach ist der Erfolg von Donald Trump nicht zu erklären.

Vielmehr ist wohl eher ein wenig Selbstkritik im liberalen Lager angebracht: Schließlich haben sich die progressiven Eliten in den vergangenen Jahrzehnten primär mit eher akademischen Fragestellungen wie der nach der kulturellen Hegemonie oder nach sexueller Identität befasst, anstatt mit den Auswirkungen, die ein entfesselter globaler Markt auf die Leben der sozial Benachteiligten hat.

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Ute Mahler/Ostkreuz

Man könnte sagen, dass hier die Geschichte einer amourösen Dreiecksbeziehung erzählt wird. Ebenso könnte man sagen, dass Die Gierigen, das mittlerweile neunte Werk der französischen Autorin Karine Tuil, ein Gesellschaftsroman ist, der die klassischen Fragen nach Identität und Erfolg in zeitgenössischen Variationen auslotet. Vielleicht sollte man sich mit einer Etikettierung des Texts aber auch gar nicht so eindeutig festlegen, denn genau wie in den Leben der Protagonisten sind auch hier solche Zuschreibungen eher Einschränkung als Erklärung.

Alles beginnt Mitte der 80er Jahre an der juristischen Fakultät in Paris. Dort treffen Samir, Samuel und Nina aufeinander. Samir ist der Sohn tunesischer Migranten, aufgewachsen in den ärmlichen Verhältnissen der Banlieue; Samuel das Kind eines jüdischstämmigen Intellektuellenpaars. (So jedenfalls glaubt er, bis er achtzehn ist.) Dazwischen die extravagante Nina, der ihre Schönheit und der Effekt, den diese auf Männer haben kann, schon immer selbst ein wenig unheimlich waren.

Nina und Samuel führen bereits eine Beziehung miteinander, als sie Samir kennenlernen. Zunächst ist das Paar auf rein platonische Art sehr angetan von Samir. Dann jedoch kommen Samuels Eltern, mit denen er seit seinem 18. Geburtstag kaum mehr ein Wort geredet hat, bei einem Autounfall ums Leben. Am ersten Tag seiner Volljährigkeit hatten sie ihrem orthodox erzogenen Sohn eröffnet, dass er adoptiert worden war und seine leibliche Mutter eine polnische Bauerstochter sei.

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American Dream

„Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten.“

Mit diesen Worten beginnt der Journalist George Packer den Prolog seines ambitionierten Sachbuchs, das in Gestalt einer Collage von Porträts und Stimmen den Zustand einer Nation abbildet, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt in Auflösung begriffen scheint. Die Kernthese dabei ist, dass im Verlauf der vergangenen 35 Jahre die demokratischen Grundwerte der USA von den Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus irreparabel untergraben wurden. Schlimmer noch: Der Sozialvertrag, der seit Franklin D. Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, blieb dabei auf der Strecke: „Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“

Das „neue Amerika“, das in Die Abwicklung sichtbar wird, ist ein Flickenteppich aus gescheiterten Institutionen, betrügerischen Pyramidensystemen, Konkursen, Zwangsvollstreckungen, Unwissenheit und Angst. Das Grundgerüst des Buchs, beruhend auf Packers Reportagen für den New Yorker, sind die breit angelegten Lebensgeschichten „ganz normaler“ US-Bürger, die in ihrem Alltag begleitet werden. Diese Hauptfiguren sind Dean Price, ein Biodieselunternehmer aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio im krisengeschüttelten „Rust Belt“ der Vereinigten Staaten; die von Sozialhilfe lebende Familie Hartzell aus Florida; der zunächst von politischen Idealen geleitete Jeff Connaughton, der sich jedoch zum gutverdienenden Lobbyisten in Washington wandelt; sowie der kalifornische PayPal-Mitgründer Peter Thiel.

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KoH

Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt. Jede dritte Person trägt die Uniform der IDF, und alle sind sie auf dem Weg nach Hause, denn der Sabbat steht vor der Türe. Eine jede von ihnen wird am Eingang durch eine gesonderte Türe geschleust, vorbei an den Metalldetektoren. Denn hier bleibt die Waffe nicht in der Kaserne, ein „Dienstfrei“ gibt es nicht, jedenfalls nicht innerhalb der zwei (Frauen) bzw. drei (Männer) Jahre Wehrdienst, die ein jeder Bürger des Staates Israel abzuleisten hat. Das Standardmagazin des M4-Sturmgewehrs fasst 20 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition, und an diesem persönlich subjektiven Freitagnachmittag befinden sich in einem Radius von 500 Metern um den Erzähler dieser Geschichte ungefähr 100 M4-Sturmgewehre, durchgeladen und gesichert. Dies macht nach Adam Ries(e) 2000 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition; und sollte bei vollem Magazin eine weitere in den Lauf verbracht worden sein, wovon auszugehen ist, so sind 100 weitere hinzuzuzählen. 2100 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition an einem beliebigen Freitagnachmittag auf dem Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs, zwischen Zuckerwatteverkäufern, arabischen Großfamilien, christlich-orthodoxen Priestern, Schulklassen und Reisegruppen – und jeder Finger an jedem Abzug ist bereit zu tun, was zu tun ist, jederzeit und (höchstwahrscheinlich/naturgemäß) frei von Zweifel. Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem beliebigen Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt, geht nicht weg, wenn man ihn verlässt, sie geht nicht weg, wenn man gegrillten Fisch am Hafen in der Altstadt von Jaffa isst, oder Hummus und Schawarma, begleitet von Limonana, auf einer Dachterrasse nahe der Grabeskirche. Beim Waschen der Wäsche nicht, und nicht beim Sortieren der Bücher. Nicht im Supermarkt und nicht im Museum. Nichts davon geht weg, auch lange nach Verlassen des Landes; und der Erzähler dieser Geschichte ist doch nur jemand, der kurz zu Besuch war und von alledem nicht mehr hat als eine bloße Ahnung.

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Affenkopf

Michele Melillo: not titled (Affenkopf), Ölkreide und Graphit auf Papier, 21 x 29,7 cm, 2012.

Gegensätze und Kontraste, Dinge, die gegeneinander und somit auch zusammengestellt etwas
erzeugen, das über das hinaus geht, was ihre einzelnen Teile darstellen, sind ein uraltes Thema
nicht nur der bildenden Kunst. So lässt sich auch aus den Werken Michele Melillos eine Art reflexive
Dialektik lesen, und zwar die des künstlerischen Subjektes. Denn indem sich dort zeichnerische
Motive des Barock mit geradezu fauvistischen Farborgien ein Stelldichein geben, stellen sie zum
einen die Frage nach dem künstlerischen Ausdruck ihres Erzeugers (seiner Identität gar) und
spiegeln zugleich den grundsätzlichen kulturtheoretischen Diskurs der Selbstreflektivität des
Künstlers wider.

So ist es kein Zufall, dass die Epoche des Barock in gewisser Weise eine Art Schwelle im
menschlichen Denken darstellt, einen Übergang von der reinen Repräsentation von Ähnlichkeiten
und Verwandtschaften unter den Dingen (die aber immer nur auf übergeordnete Konstrukte wie
Religion und Macht verweisen), hin zu einem neuen Referenzpunkt, zu dem sich Denken und
Erscheinungen verhalten: das Subjekt. Es geht nicht mehr um die Frage der Ähnlichkeiten, sondern
um die der Identitäten und Unterschiede. Die reine Repräsentation hat ausgedient; der Mensch wird
der wichtigste Bezugspunkt und rückt als Begriff in den Vordergrund.

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