— Paragraphien

Über die Toten nur Gutes

Schifffahrt

Der behandelte Gegenstand ist klar: Hans Blumenberg, Philosoph, physisch anwesend in dieser Welt von 1920 bis 1996, Lordsiegelbewahrer der Metapherntheorie und wohl von deutschen Geisteswissenschaftlern meistzitierter Geisteswissenschaftler. Gegen Ende seiner Karriere wurde er sogar Liebling der Diskurstheorie, ohne dass er selbst je deren Begrifflichkeiten verwendet hätte.

Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman nun macht aus dem ehemals lebendigen Subjekt Hans Blumenberg, der ja bereits im Sinne der akademischen Heldenverehrung eine Art Figur war, final und literarisch eine solche. Diese Blumenbergfigur erhält eines Abends im Jahre 1982 in der dachstüblichen Arbeitsklause seines Münsteraner Hauses Besuch von einem Löwen, der plötzlich auf seinem Teppich liegt, ruhig, einfach anwesend.

Hoppla. Das Heldenverehrungsregelwerk des Akademikers will sich gegen eine derartige Profanisierung geistiger Vorbilder verwehren und schreit auf. So etwas kann doch nicht funktionieren. Fiktiv-reale Philosophenfiguren imaginieren paradigmatische Tiermetaphern. Wo kommt man denn da hin? Man stelle sich Derrida vor, wie er von einem Pudel be(heimge-)sucht wird, oder Foucault, von einem, äh, sagen wir – Greif.

Jedoch funktioniert dies hier überraschenderweise sehr gut. Der Löwe als Vater aller Metaphern wird sofort auf einer verschmitzten Metaebene wahrgenommen und eingeordnet: „Blumenberg wusste sofort, dass hier viel falsch zu machen war und nur eines richtig: abwarten und die Fassung behalten. Er wusste auch, dass in Gestalt des Löwen eine außerordentliche Ehre ihm widerfuhr, gleichsam eine Ehrenmitteilung der hohen Art war überbracht worden, von langer Hand vorbereitet und nach eingehender Prüfung ihm gewährt. Man traute Blumenberg offenbar zu, dass er in seinem schon etwas höheren Alter leichterdings damit fertig würde.“

[…]

Und so sitzt er nun da, mit plötzlichem Zusatzlöwen, und kommt sich vor wie Hieronymus im Gehäuse, dem ja selbst ein zahmes Raubtier bei seinen Tätigkeiten zu Füßen lag. Wie aber ist mit einer solchen Epiphanie umzugehen? Schließlich ragt Blumenberg, der immer auch Freund theologischer Fragen war, nun quasi ein Wunder ins Haus, und die Sache einfach als Halluzination zu betrachten, erlaubt er sich nicht. Trotzdem stellt der Löwe ein Rationalitätsproblem dar, das aber nicht gelöst wird. Vielmehr erzeugt das Vermeiden einer eindeutigen metaphorischen Bedeutung eine Art reine, selbstverständliche Präsenz, die weiteres Nachprüfen in gewisser Weise kleinlich scheinen lassen würde. Die Figur Blumenberg sieht das so: „Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht.“

Die Anwesenheit des Tieres jedenfalls, wie immer sie ontologisch zu verorten ist, erzeugt Trost und Zuversicht, die auch schwer nötig sind, denn immer wieder ist die Blumenbergfigur gezwungen, Klage zu führen: über den Verlust des Weltzusammenhangs und den allgemeinen Stand der Dinge. Hier spielt auch die Behaglichkeit des akademischen Milieus eine Rolle, der akademischen Existenz, die gleichzeitig ganz in der Welt und ganz außerhalb von ihr ist. Fast könnte man meinen, dass dies das „Gehäuse“, die Zuflucht ist, deren Vergehen betrauert wird. Die sichere Abgeschiedenheit, in der das Verhältnis von Begriffen und Dingen noch nicht postmodern zerfasert.

Ergo beschäftigt sich der Text nicht nur mit Blumenberg, sondern auch mit der Gemeinde ihn verehrender Studenten. Jedoch gibt es hier kaum Berührungspunkte, vielmehr entsteht eine klare Abgrenzung von Blumenbergs nokturnalem Gedankenuniversum und der exaltierten Schwärmerei seiner Adepten. Und sowohl die fiktiven Richard und Hansi und Gerhard, wie auch des letzteren ebenfalls fiktive Freundin Isa, die vollkommen gefangen ist in einer liebeswahnsinnigen Projektion ihrer Wünsche und Vorstellungen auf Blumenberg selbst – sie alle werden den Roman nicht überleben, sterben frühe und trocken beschriebene Tode, was die Irritation über die getrennten Welten nicht unbedingt verringert.

Und dann adressiert der bisher brav bei seinen auktorialen Leisten bleibende Erzähler auch noch direkt, über seine narrative Technik reflektierend, den Leser: „So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten. (…) Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es eben festgehalten.“ Was jedoch keineswegs zu bemängeln ist, als weiterer Verweis darauf, dass die grundsätzliche Absurdität des Todes durchaus wundersamer ist als das Erscheinen eines metaphysischen Löwen.

Trotz dieser vermeintlichen Schwere haben wir es mit einem launigen Ensemblestück zu tun, geschrieben nicht nur für ein geisteswissenschaftliches Publikum. Zwar funktionieren manche Anspielungen nur, wenn man einigermaßen vertraut ist mit der abendländischen Geistes- und Philosophiegeschichte; vieles lässt sich wiederentdecken, und zwar nicht nur Elemente theoretischer Texte, die irgendwann einmal gelesen wurden, sondern vor allem auch der seltsame Geisteszustand, der nun einmal nur in besagtem Milieu entstehen und ­gedeihen kann. Aber man muss selbst­verständlich kein Akademiker sein, um sich fein unterhalten zu lassen.

Am Ende schließlich finden sich sämtliche Protagonisten in einer Art geschlossenen (Gehäuse-) Gesellschaft wieder, einem nicht näher definierten Raum am Übergang zwischen Leben und Tod. Der Philosoph nebst Löwe, umringt von seiner Anhängerschaft. Eine große Entspanntheit ist über allem, Erinnerungen ans materielle Dasein entschwinden. Es bleiben nur Geist und Bewusstsein, noch ein wenig umherwabernd ohne die konstituierende oder zumindest bergende, beherbergende Materie. Statt der finalen Auflösung aller Rätsel entfaltet sich ein Zustand angenehmen Desinteresses an allem, was einst plagte. Und so ist vielleicht die vermisste Geborgenheit nur im Ensemble des Todes zu finden, während der Löwe sich als Begleitpersonal für den Übergang in die andere Welt zeigt, an Fährmanns statt. Das allerdings sprengt dann endgültig seinen metaphorischen Rahmen.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg, Suhrkamp 2011.

 

  Erschienen in: der Freitag 40 / 2011

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