— Paragraphien

Bis ans Ende der Nacht

Peter J. Smith for the Wall Street Journal

Seit Richard Price 1974 im Alter von 24 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, standen im Zentrum seines thematischen Universums immer die Arbeit der Gesetzeshüter sowie die Umtriebe auf der anderen Seite des Gesetzes, die diese Arbeit überhaupt erst notwendig machen. Trotzdem wird er nur selten als klassischer Krimiautor bezeichnet, vielmehr häuften sich über die Jahre die Stimmen, sowohl bei der Käuferschaft wie auch im Feuilleton, dass sein erzählerisches Talent ihn längst über derartige Genrebegriffe hinausgehoben habe.

Dies liegt nicht zuletzt an der realistischen Qualität seiner Dialoge, für die Price von Anfang an gefeiert wurde und die bereits 1986 die Aufmerksamkeit der Filmindustrie auf ihn lenkte, für die er seitdem regelmäßig Drehbücher verfasst – wie beispielsweise Die Farbe des Geldes, das ihm 1987 eine Oscar-Nominierung einbrachte.

Ebenso wirklichkeitsnah wie die Sprache seiner Protagonisten ist auch die moralische Landschaft, in der sie sich bewegen. Diese nämlich ist mitnichten von den üblichen Klischees der Kriminalgeschichte geprägt, vielmehr tun hier schlechte Menschen gute Dinge und umgekehrt, und nichts ist eindeutig schwarz oder weiß. Ganz eben wie im sogenannten echten Leben.

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Nicht von ungefähr fühlt man sich von diesen Aspekten an die (zu Recht) hochgelobte Serie The Wire erinnert, denn auch für diese war Price als Autor tätig. Sein achter Roman Die Unantastbaren, bejubelt in der US-amerikanischen Presse, bleibt diesem poetischen Register ebenso treu.

Dessen Hauptfigur Billy Graves leitet die Nachtschicht des New York Police Departments und ist ein Cop, der es zwar immer gut meint, aber deshalb nicht zwangsweise auch immer gut handelt. Wir begegnen ihm erstmals am St. Patrick’s Day, einer der schlimmsten Nächte des Jahres, in der die Gewalt am „spontansten und primitivsten ist“.

Das ist sein Geschäft: der tägliche Umgang mit den brutalen und oftmals bizarren Verbrechen in einem Revier, das beinahe ganz Manhattan umfasst. Diese reichen von einem ehemaligen Olympioniken, der seine Medaille von 1972 vermisst (die seine Freundin im Wäschekorb versteckt hat, damit er sie nicht in betrunkenem Zustand zum Pfandleiher trägt), bis zu einem Straßenkampf zwischen zwei Gangs, die sich mit Glühbirnen attackiert haben.

Die Nachtschicht wirkt dabei wie ein Trip in die Hölle, durch die Billy jedoch gelassen navigiert, angetrieben von der Hoffnung, er könne vielleicht rechtzeitig wieder zu Hause sein, um seine beiden kleinen Söhne zur Schule zu bringen.

In diesen ungewöhnlichen, aber routinierten Alltag schleichen sich plötzlich Geheimnisse aus der Vergangenheit ein, von denen Billy dachte, sie wären längst tot und begraben. Während der Neunziger nämlich war er Teil einer Elitetruppe, die sich selbst die Wildgänse nannte. Diese erzielte eine erstaunliche Erfolgsrate in der Verbrechensbekämpfung, was eine Reihe von schnellen Beförderungen zur Folge hatte. Doch von den heute verbliebenen fünf Mitgliedern ist Billy der einzige Beamte, der noch im aktiven Dienst steht.

Einmal im Monat treffen sie sich alle in einem Steakhouse zum Essen, unter anderem, um sich über ihre sogenannten Unantastbaren auszutauschen – Menschen, die in ihrem Zuständigkeitsbereich schamlose Verbrechen begingen und damit ungeschoren davonkamen, weil man ihnen offiziell nichts nachweisen konnte. Die persönlichen Dämonen eines jeden Polizisten, die ihn nie wirklich loslassen.

Als dann einer dieser Unantastbaren in der Leichenhalle liegt, ist das nur der Auftakt zu einer recht unangenehmen Reihe von Ereignissen für Billy. Plötzlich wird zudem seine Familie bedroht, und auch wenn der Leser vielleicht ahnen mag, wer dahintersteckt, bleiben Motivation und Auflösung der Geschehnisse bis zum Ende ein fesselndes Panoptikum der Überraschungen.

Richard Price: Die Unantastbaren, S. Fischer 2015.

 

Erschienen in: der Freitag 43 / 2015, S. 29