— Paragraphien

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Tag "Them Ghosts"

Wand

Es fällt mir sehr schwer, mich genau zu erinnern. Man sagte mir, ich hätte die beiden vergangenen Jahre in einem Kellerverlies unterhalb des Grill Royal verbracht, hineinkonstruiert zwischen Vorratsräumen und Heizkeller, mit eigenem Luft- und Abwassersystem. Es war komplett eingerichtet mit weißen Möbeln, die exakt so aussahen wie aus der beliebten Billy-Reihe eines großen schwedischen Möbelhauses, jedoch viel besser verarbeitet waren. Bei Hochwasser schwappte die Spree durch das oben gelegene Fenster hinein und durchnässte das Strohlager und meine Notizen. Man mischte mir täglich Drogen ins Essen, wohl eine Mischung aus Peyote und Amphetaminen, und ich muss unfassbar viel Text produziert haben, ausgehend von den Manuskripten, die in den Schränken des Vorraumes gefunden wurden. Ich weiß noch, dass einmal im Monat ein Herr in einem gutgeschnittenen Anzug, das war wahrscheinlich der Herr von Eden, mit Pomade im Haar, vorbei kam, die aktuelle Produktion begutachtete und Verwendbares mitnahm. Ab und an schauten auch seine Kollegen, die Frau Eggers und der Herr Landwehr, herein, und lockerten die zumeist recht eintönige Kost aus Fleisch-, Kartoffel- und Salatresten mittels mitgebrachter Präsentkörbe aus dem Hause Butter Lindner auf.

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KoH

Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt. Jede dritte Person trägt die Uniform der IDF, und alle sind sie auf dem Weg nach Hause, denn der Sabbat steht vor der Türe. Eine jede von ihnen wird am Eingang durch eine gesonderte Türe geschleust, vorbei an den Metalldetektoren. Denn hier bleibt die Waffe nicht in der Kaserne, ein „Dienstfrei“ gibt es nicht, jedenfalls nicht innerhalb der zwei (Frauen) bzw. drei (Männer) Jahre Wehrdienst, die ein jeder Bürger des Staates Israel abzuleisten hat. Das Standardmagazin des M4-Sturmgewehrs fasst 20 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition, und an diesem persönlich subjektiven Freitagnachmittag befinden sich in einem Radius von 500 Metern um den Erzähler dieser Geschichte ungefähr 100 M4-Sturmgewehre, durchgeladen und gesichert. Dies macht nach Adam Ries(e) 2000 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition; und sollte bei vollem Magazin eine weitere in den Lauf verbracht worden sein, wovon auszugehen ist, so sind 100 weitere hinzuzuzählen. 2100 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition an einem beliebigen Freitagnachmittag auf dem Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs, zwischen Zuckerwatteverkäufern, arabischen Großfamilien, christlich-orthodoxen Priestern, Schulklassen und Reisegruppen – und jeder Finger an jedem Abzug ist bereit zu tun, was zu tun ist, jederzeit und (höchstwahrscheinlich/naturgemäß) frei von Zweifel. Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem beliebigen Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt, geht nicht weg, wenn man ihn verlässt, sie geht nicht weg, wenn man gegrillten Fisch am Hafen in der Altstadt von Jaffa isst, oder Hummus und Schawarma, begleitet von Limonana, auf einer Dachterrasse nahe der Grabeskirche. Beim Waschen der Wäsche nicht, und nicht beim Sortieren der Bücher. Nicht im Supermarkt und nicht im Museum. Nichts davon geht weg, auch lange nach Verlassen des Landes; und der Erzähler dieser Geschichte ist doch nur jemand, der kurz zu Besuch war und von alledem nicht mehr hat als eine bloße Ahnung.

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Apropos Delphin: Ich bin immer noch der festen Überzeugung, kürzlich Delphine Claire Belriane Seyrig im Südflügel des Querhauses der Abteikirche des Klosters Cluny umherspazieren gesehen zu haben, gekleidet wie in der Rolle der Fabienne Tabard, die sie in Truffauts 1968 entstandenen „Baisers volés“ spielte, was ich weitaus verwunderlicher finde als das ausgewachsene Pferd, das mich kurz zuvor aus dem Wohnzimmerfenster eines der die Zufahrtsstraße zum Klostergelände säumenden Häuser heraus anschaute, glasigen Auges, da Delphine Claire Belriane Seyrig schließlich bereits im Jahre 1990 in Paris, in gewisser Weise ganz natürlich und folgerichtig, an Lungenkrebs verstorben ist. Große Teile der Klosterkirche, deren dritte und letzte Version bis zu diesem Zeitpunkt das größte und exzessivste romanische Sakralgebäude der Welt darstellte, wurden hingegen bereits 1810 im Zuge der napoleonischen Profanisierungsbemühungen gesprengt und als Steinbruch für den Bau einer nationalen Pferdezucht genutzt.

 

Zuerst erschienen auf Aggiornamento

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