— Paragraphien

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Tag "Rezension"

The Hyena & Other Men

Der heutige Staat Nigeria ist nicht mehr als eine Erfindung britischer Offiziere, die im Jahre 1861 ein paar Linien auf der Landkarte zogen und das so umrissene Gebiet nach einem ebenfalls willkürlich benannten Fluss tauften, der durch es hindurchfließt. Nicht unbedingt ein sinnvoll identitätsstiftender Gründungsakt, denn in vorkolonialer Zeit existierten innerhalb dieser Grenzen so verschiedene Staaten wie die Yoruba-Königreiche Oyo und Ife im Süden, Benin im Südwesten, das Kalifat von Sokoto im Nordwesten und die Emirate der Hausa im Norden, jedoch ebenfalls Gesellschaftsformen ganz ohne zentrale politische Autorität.

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Land, bei dessen Erschaffung weder auf naturräumliche, noch sprachliche oder kulturelle Gegebenheiten Rücksicht genommen wurde, nach Erlangung seiner Unabhängigkeit anno 1960 in einem veritablen postkolonialen Chaos versank. Gewissermaßen gibt es Nigeria eigentlich gar nicht, und auch keine Nigerianier. Eine gemeinsame Identität als etwas kulturell über einen langen Zeitraum Gewachsenes ist beim besten Willen nicht erkennbar.

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Anna Coleman Ladd

Der Titel des achten Romans von Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben (im Original Au revoir là-haut), ist dem Brief eines französischen Soldaten entnommen, den dieser kurz vor seiner Exekution als angeblicher Kriegsverräter im Jahre 1914 schrieb. Jedoch auch ohne Kenntnis dieses Details setzt der kurze Gruß eine signifikante thematische wie auch emotionale Klammer um die Handlung des Buches. Im vergangenen Jahr mit Frankreichs bekanntestem Literaturpreis, dem Prix Goncourt ausgezeichnet, porträtiert Wir sehen uns dort oben eine Gesellschaft, die darum bemüht ist, ihre Toten zu ehren und unterdessen ihre Lebenden, die Veteranen, vergisst. Mit seinem vergleichsweise schnellen Tempo und der Einflechtung von zeitgenössischem „Slang“ der 1920er-Jahre ist der Text dabei eher mit Lemaitres älteren Werken, allesamt erfolgreiche Kriminalromane und Thriller, zu vergleichen, und setzt sich damit auf untypische Weise ab von den meisten preisgekrönten Romanen der jüngsten Vergangenheit.

Wir sehen uns dort oben verknüpft zwei Erzählstränge miteinander, die beide am 2. November 1918 beginnen, kurz vor dem Waffenstillstand. Henri d’Aulnay-Pradelle, ein adeliger Leutnant der französischen Armee, hofft vor dem sich bereits deutlich abzeichnenden Ende des Krieges noch ein wenig Ruhm zwecks Förderung der eigenen Offizierskarriere einstreichen zu können, indem er seiner Einheit Befehle gibt, die ein taktisch eigentlich unnötiges Gefecht mit deutschen Truppen provozieren sollen. Dazu sucht er jeweils das jüngste wie das älteste Mitglied des Bataillons als Vorhut aus und schießt beiden während ihres Vorrückens heimlich aus der Deckung in den Rücken, um so den Rest seiner Männer, die dies für das Werk des Feindes halten, zum Angriff zu motivieren.

Zwei der Soldaten, Albert Maillard und Édouard Péricourt, sind zwar Zeugen von Pradelles „Methode“, werden jedoch kurz darauf beide schwer verwundet. Im Erdreich verschüttet, wird Albert von Édouard das Leben gerettet, indem dieser auf Alberts Körper springt, um so sein Herz zum Weiterschlagen zu animieren. Genau in diesem Moment trifft Péricourt ein Granatsplitter, der sein Gesicht beinahe vollständig zerstört.

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American Dream

„Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten.“

Mit diesen Worten beginnt der Journalist George Packer den Prolog seines ambitionierten Sachbuchs, das in Gestalt einer Collage von Porträts und Stimmen den Zustand einer Nation abbildet, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt in Auflösung begriffen scheint. Die Kernthese dabei ist, dass im Verlauf der vergangenen 35 Jahre die demokratischen Grundwerte der USA von den Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus irreparabel untergraben wurden. Schlimmer noch: Der Sozialvertrag, der seit Franklin D. Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, blieb dabei auf der Strecke: „Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“

Das „neue Amerika“, das in Die Abwicklung sichtbar wird, ist ein Flickenteppich aus gescheiterten Institutionen, betrügerischen Pyramidensystemen, Konkursen, Zwangsvollstreckungen, Unwissenheit und Angst. Das Grundgerüst des Buchs, beruhend auf Packers Reportagen für den New Yorker, sind die breit angelegten Lebensgeschichten „ganz normaler“ US-Bürger, die in ihrem Alltag begleitet werden. Diese Hauptfiguren sind Dean Price, ein Biodieselunternehmer aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio im krisengeschüttelten „Rust Belt“ der Vereinigten Staaten; die von Sozialhilfe lebende Familie Hartzell aus Florida; der zunächst von politischen Idealen geleitete Jeff Connaughton, der sich jedoch zum gutverdienenden Lobbyisten in Washington wandelt; sowie der kalifornische PayPal-Mitgründer Peter Thiel.

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Beyonze

Die beste Position, um all die Strukturen und alltäglichen Kleinigkeiten zu erkennen, die eine Kultur ausmachen und die man selbst innerhalb der selben kaum mehr wahrnimmt, ist paradoxerweise die des Außenseiters. Oder, anders gesagt: die, die am wenigsten zuhause sind in einer Kultur, sind oft diejenigen, die sie am besten beschreiben können.

Dies zeigt auch der dritte Roman der aus Nigeria stammenden Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Denn sie selbst hat, wie ihre Protagonistin Ifemelu, einen Großteil ihres Erwachsenenlebens in den USA verbracht und wurde dort zu einer präzisen Beobachterin besagter Eigenheiten und deren Auswirkungen auf das tägliche Dasein. Insbesondere natürlich, wenn es um den Vergleich rassenspezifischer Hierarchien in den Vereinigten Staaten mit den sozialen Gegebenheiten in ihrem Heimatland geht. Dies geschieht mit schonungsloser Offenheit, was sowohl die schönen wie auch die hässlichen Aspekte beider Nationen betrifft.

Americanah verhandelt dieses Beobachten anhand der Geschichte von Ifemelu und Obinze, die als Jugendliche ein Liebespaar waren. Die beiden Kinder der englischsprachigen gehobenen Mittelschicht Nigerias verlieben sich als Teenager ineinander; als Ifemelu jedoch ein Studium in den USA beginnt, trennen sich ihre Wege. Ebenso wie die Autorin gehört ihre Protagonistin zu einem neuen Typ von Migranten, die nicht einer sozialen Notsituation entfliehen müssen, sondern „gut genährt und bewässert, aber steckengeblieben in Unzufriedenheit“ sind und „der unterdrückenden Lethargie der Perspektivlosigkeit“ entkommen wollen.

Dies scheint auch, zumindest für Ifemelu, gut zu funktionieren. Sie erhält (ebenfalls eine Gemeinsamkeit mit der Autorin) ein Stipendium in Princeton, etabliert sich im akademischen Betrieb und führt eine Beziehung mit einem Yale-Professor. Dass sie dabei jedoch die Sehnsucht nach ihrer Heimat nie ablegen kann, liegt auch daran, dass sie sich in gewisser Weise in eine andere verwandelt hat, seit sie Lagos verließ: nämlich in eine Schwarze. In Nigeria hatte sie das nie gespürt.

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Ein Versuch über Schmutz und Film

ADer dickste Teppich, in dem meine Füße jemals versanken, befindet sich im Logenbereich des Sathyam Cinemas in Chennai. Der Regisseur K. Hariharan, mit dem ich in jenen Tagen viel Zeit in einem viel zu kalten Schneideraum verbrachte, nur unterbrochen von gelegentlicher Suppe und Samosas in der Studioküche, hatte uns zur Premiere von Om Puris neuestem Film, „The Hangman“, eingeladen. In diesem spielt er, worauf der Titel bereits dezent verweist, einen Henker, der im dramatischen Verlauf der fast dreistündigen Handlung seinen einzigen Sohn an die illegalen Verlockungen der Großstadt verliert und am Ende tatsächlich vom Lande her anreisen muss, um selbigen zu hängen, durch den obersten Richter persönlich gerufen, da er der Letzte und Beste seiner Zunft ist. Es wurde jedoch nicht gesungen. Warum fällt mir das gerade jetzt wieder ein? Wahrscheinlich, weil ich kürzlich „Charlie Wilson’s War“ sah, und auch Om Puri wieder, der dort General Muhammad Zia-ul-Haq verkörpert, seines Zeichens Staatsoberhaupt Pakistans von 1977 bis 1988 und emotionaler Joker in Joanne Herrings antikommunistischem Unterfangen, via den texanischen Abgeordneten Charles Nesbitt Wilson unglaublich hohe Geldbeträge im US-amerikanischen Kongress für die Bewaffnung der Mudschahedin freizumachen. Dies kann aus vielen verschiedenen Gründen interessant sein, ist es für mich aber hauptsächlich, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, ein Kreis würde sich nachträglich schließen zwischen den stickigen Stätten der indischen Filmindustrie und den kühlen grünen Tälern Afghanistans, die man auf dem Weg dorthin überquert, so man denn von Westen her anreist. Der Teppichboden in der Loge war übrigens fast vom gleichen Rot wie die Polsterbezüge der Air Force One in den 80er Jahren.

Sie fragen sich nun, lieber Leser, was dies wohl mit Schmutz zu tun haben soll, insbesondere mit Schmutz im Film, und Sie stellen sich diese Frage zurecht. Zunächst einmal nämlich gar nichts, es sei denn, man würde die ausgelatschten metaphorischen Pfade betreten wollen, auf denen alles mit allem zu tun hat und beispielsweise ein blitzsauberer flauschiger Teppich in einem indischen Großstadtkino nicht nur als Aufhänger für einen bemühten Diskurs zur Dialektik des Einschließens und Ausschließens, der Abgrenzung und des Einbezugs dienen könnte, sondern zugleich auch noch hinzeigt zu den tausend Plateaus, auf, unter und zwischen denen alle Dinge, Menschen und Ereignisse miteinander verknüpft und verwoben sind. Ein wenig esoterisch, nicht wahr?

Andererseits jedoch tatsächlich auch irgendwie – wahr. Denn der Begriff des Schmutzes hat immer auch mit der Sehnsucht nach Reinheit zu tun. Mit dem Guten und dem Schlechten. Mit dem, was man will und dem, was man nicht will. Der Schmutz ist also zunächst einmal per definitionem das, was nicht zu wollen ist, das Ausgeschlossene, das weg muss und bestimmt somit aber zugleich das Gute, Wahre, Schöne, also eben das, was sehr wohl zu wollen ist und in der Welt sein und auch bleiben soll. Der Begriff, mit dem wir es zu tun haben, ist folglich einer der Ausgrenzung, der zugleich immer auch dialektisch der Bestimmung dessen dient, zu dem er nicht gehören soll. Am Notausgang links sehen wir kurz Michel Foucault winken, bevor er leise den Saal verlässt. Popcorn holen, wahrscheinlich.

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