— Paragraphien

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Schwarze Spiegel

KoH

Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt. Jede dritte Person trägt die Uniform der IDF, und alle sind sie auf dem Weg nach Hause, denn der Sabbat steht vor der Türe. Eine jede von ihnen wird am Eingang durch eine gesonderte Türe geschleust, vorbei an den Metalldetektoren. Denn hier bleibt die Waffe nicht in der Kaserne, ein „Dienstfrei“ gibt es nicht, jedenfalls nicht innerhalb der zwei (Frauen) bzw. drei (Männer) Jahre Wehrdienst, die ein jeder Bürger des Staates Israel abzuleisten hat. Das Standardmagazin des M4-Sturmgewehrs fasst 20 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition, und an diesem persönlich subjektiven Freitagnachmittag befinden sich in einem Radius von 500 Metern um den Erzähler dieser Geschichte ungefähr 100 M4-Sturmgewehre, durchgeladen und gesichert. Dies macht nach Adam Ries(e) 2000 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition; und sollte bei vollem Magazin eine weitere in den Lauf verbracht worden sein, wovon auszugehen ist, so sind 100 weitere hinzuzuzählen. 2100 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition an einem beliebigen Freitagnachmittag auf dem Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs, zwischen Zuckerwatteverkäufern, arabischen Großfamilien, christlich-orthodoxen Priestern, Schulklassen und Reisegruppen – und jeder Finger an jedem Abzug ist bereit zu tun, was zu tun ist, jederzeit und (höchstwahrscheinlich/naturgemäß) frei von Zweifel. Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem beliebigen Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt, geht nicht weg, wenn man ihn verlässt, sie geht nicht weg, wenn man gegrillten Fisch am Hafen in der Altstadt von Jaffa isst, oder Hummus und Schawarma, begleitet von Limonana, auf einer Dachterrasse nahe der Grabeskirche. Beim Waschen der Wäsche nicht, und nicht beim Sortieren der Bücher. Nicht im Supermarkt und nicht im Museum. Nichts davon geht weg, auch lange nach Verlassen des Landes; und der Erzähler dieser Geschichte ist doch nur jemand, der kurz zu Besuch war und von alledem nicht mehr hat als eine bloße Ahnung.

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>> [Montaigne]

Der Schweizer Bühnenautor hatte zum provençalischen Pflaumenhuhn geladen, draußen, in der Villa am See. Während die frühen ersten Gäste in der großen chromenen Institutsküche den verschiedenen ihnen zugewiesenen Zuarbeiten nachkamen, berichtete das recht junge Institutsfaktotum, welches, inkarniert in den schlaksigen Körper eines homosexuellen Rheinländers und in gewisser Weise naturgemäß, also sowohl seinem Wesen als auch seiner Rolle entsprechend, die eigentliche Kraft war, die den Betrieb (sowohl den auf die Villa bezogenen wie auch diesen anderen, größeren, noch abstrakteren) am Laufen hielt, während der eigentliche Institutsleiter die meiste Zeit auf seinem alten russischen Motorrad die umliegenden Wälder erkundete und ansonsten höchst selten, um genau zu sein, eigentlich nur, wenn offene Weinflaschen im Spiel waren, auf dem weitläufigen Parkgelände des Seegrundstücks in Erscheinung trat, wobei wiederum natürlich diese schwankende Stelle im System auch nicht unterzubewerten ist, gerade auch im Hinblick auf das Ausgleichen von Schwingungsbewegungen anderer älterer Herrschaften, sowohl das Gemüt betreffend wie auch die ganz konkrete Physis – jedenfalls berichtete das junge Institutsfaktotum also, während ich selbst Kartoffeln schälte und zugleich versuchte, aus den singulären Elementen „Flasche Madeira neben Kochtopf“, „mauretanisch geprägte blaue Muster auf den Kacheln“ sowie „Provence“ eine sinnvolle assoziative Kette zu bilden, von der soeben erfolgten Anfrage eines Redakteurs des „Stern“ (wahrscheinlich Stephan Maus, wie es ja immer Stephan Maus ist), ob denn nicht einer der Stipendiaten im Hause vielleicht Lust hätte, ein launiges Stück für den „Stern“ zu schreiben, und zwar über den weltberühmten Akteur Brad Pitt, der doch gerade, quasi ums Eck, in dem von seinem Kollegen, ja, guten Freund Tom Cruise gemieteten Anwesen logiere, und da böte es sich doch an, mal schauen zu gehen, vielleicht sähe man ja etwas.

Wenn nicht, sei es aber auch nicht schlimm, so oder so habe man doch bestimmt etwas von dem ganzen Brimborium mitbekommen, und irgendetwas werde doch irgendwem schon einfallen, diese jungen Schriftsteller hätten doch immer Ideen, schließlich sei dies doch ihr täglich Brot.

Dieser Bericht des Institutsfaktotums führte zu diversen, verschiedensten und doch einander ähnlichen Impulsen und Fragen, so der nach einer möglichen Entlohnung für besagten Artikel, aber auch Berichten über dunkle Limousinen sowie Personenschützer in den üblich schlecht sitzenden Anzügen und schließlich zu dem Beschluss, nach dem Essen einfach mal hinüberzugehen, vielleicht stehe der Herr Pitt ja gerade mit Bademantel im Garten und betrachte den Sternenhimmel, man wüsste ja nie.

Das provençalische Huhn hatte gerade den Ofen bezogen, als der letzte noch fehlende Gast zum sowohl arbeitsvermeidend wie auch dramaturgisch perfekten Zeitpunkt, nur mit einem rosafarbenen Hausmantel bekleidet, im Rahmen der Küchentür erschien. Ihre hellblond gefärbte 80er-Frisur mit Undercut hatte die genau adäquate Zerzaustheit, der überbordende Mascara den genau richtigen Grad von Zerwischtheit und das Rasiermesser in ihrer Hand den genau richtigen Grad von Blutverschmiertheit. Nur das Blut aus ihren Handgelenken wollte nicht so richtig fließen, noch nicht einmal von tropfen konnte man sprechen, eigentlich sogar konnte man sich fast fragen, ob denn da überhaupt ernsthaft geschnitten worden war.

[…]

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„Es ist der stete Neubezug, der die hier versammelten Versionen des Erzählten in ihrer Vielfalt und Eigensinnigkeit vereint. Vier Erzählungen des uruguayischen Autors Juan Carlos Onetti setzten vor vier Jahren ein einmaliges Schreibprojekt junger deutschsprachiger Autorinnen und Autoren in Gang. Seitdem entstanden über 30 Coverversionen – Paraphrasen, Parodien, Aktualisierungen, Annäherungen und Abstoßungen – alle einmalig in ihrem Ansatz. Nach der ersten Ausgabe Covering Onetti (2009) liegen mit Re-Covered nun 22 Texte vor, die nicht mehr nur Onettis Texte sondern auch die vorangegangenen Coverversionen sampeln. Diese Anthologie versammelt die literarischen Stimmen von morgen.“

Mit Texten von Mario Apel, Luise Boege, Silke Eggert, Jens Eisel, Sandra Gugić, Philipp Günzel, Bettina Hartz, Roman Israel, Katharina Kaps, Thorsten Krämer, Georg Leß, Babet Mader, Yulia Marfutova, Tom Müller, Laetizia Praiss, Sascha Reh, Donata Rigg, Marc Oliver Rühle, Martin Spieß, Gerhild Steinbuch, Florian Wacker, Robert Wenrich und Daniel Windheuser.

RE-COVERED. Neue deutschsprachige Prosa
192 Seiten, Softcover, Englische Broschur
10,00 Euro (D), 10,20 Euro (A)
ISBN 978-3-9812062-9-6

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Lettretagebuch

Kreuzwort

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WTC 1

When the numbers get so high
Of the dead flying through the sky
O, I don’t know why
Love comes to me
Love comes to me

Wie es denn dann ganz praktisch war; materiell – die roten Stücke Fleisch überall, zwischen den Resten von allem, was einmal Zusammenhang hieß und stiftete. Die roten Spuren, und (ebenso) überall der Staub, Schlieren, Glas, Gehirn, das Vorher und das Nachher und die Frage, was man zeigen sollte und wer denn hier das „darf“ definiert. Jeder Fleischrest war einmal Teil von etwas, das „Ich“ sagen konnte, dies nun aber nicht mehr tut. Schuld daran ist weder ein System (in keiner von Menschen definierten, gesetzten Kategorie wie Himmelsrichtung, Kulturkreis oder Religion), noch irgendein Subjekt innerhalb dieser Referenzbezüge, sondern bloß die überall gleiche Conditio Humana, die es sich selbst zumeist versagt, mehr meta zu denken, als es zum bloßen Überleben braucht. Auch wenn dies manchmal eben nicht für alle gilt, sowohl das mit dem Denken wie auch das mit dem Überleben, wobei es oft, aber auch wiederum nicht immer miteinander korrespondiert. Zu weit gehen ist eine Frage der Definition des Begriffes der Grenze.

Abstraktion und Praxis, die Masse und das Individuum, das Rhizom und dessen Zusammenhänge, die Unfähigkeit der meisten Subjekte, überhaupt eine Vorstellung von einer umgreifenden Struktur zu entwickeln, geschweige denn, von dort aus begreifen zu können, dass diese Struktur nicht statisch, sondern hochdynamisch ist.

Die Unterkomplexität als Voraussetzung des Glücks im Sinne des gemeinsamen Nenners der meisten, das Referenzsystem der Nivellierung, das Einpegeln auf dem mittleren Grad.

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Vielleicht, weil es dich nur als den Einen gibt, hinter dem das Viele liegt.

WTC 2 WTC 3 WTC 4
WTC 5 WTC 6 WTC 7
WTC 8 WTC 9 WTC 10

 

Bildquelle: Anonymous / documentingreality.com
See also: Die Appropriation des Anderen

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