— Paragraphien

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L’Empire des signes

Chalok Baan Kao

 

STURMABSCHIED
[Traurige Tropen I]

Die Palmen wedeln
mit langen Armen
vor der Linie
verabschieden
den Sturm
am Strand
die Fußabdrücke
längst verendeter
Legionen
unter den Strommasten
120 Jahre Ethnographie

alles Weitere
ist Warten
auf die Flut

[…]

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American Dream

„Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten.“

Mit diesen Worten beginnt der Journalist George Packer den Prolog seines ambitionierten Sachbuchs, das in Gestalt einer Collage von Porträts und Stimmen den Zustand einer Nation abbildet, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt in Auflösung begriffen scheint. Die Kernthese dabei ist, dass im Verlauf der vergangenen 35 Jahre die demokratischen Grundwerte der USA von den Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus irreparabel untergraben wurden. Schlimmer noch: Der Sozialvertrag, der seit Franklin D. Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, blieb dabei auf der Strecke: „Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.“

Das „neue Amerika“, das in Die Abwicklung sichtbar wird, ist ein Flickenteppich aus gescheiterten Institutionen, betrügerischen Pyramidensystemen, Konkursen, Zwangsvollstreckungen, Unwissenheit und Angst. Das Grundgerüst des Buchs, beruhend auf Packers Reportagen für den New Yorker, sind die breit angelegten Lebensgeschichten „ganz normaler“ US-Bürger, die in ihrem Alltag begleitet werden. Diese Hauptfiguren sind Dean Price, ein Biodieselunternehmer aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio im krisengeschüttelten „Rust Belt“ der Vereinigten Staaten; die von Sozialhilfe lebende Familie Hartzell aus Florida; der zunächst von politischen Idealen geleitete Jeff Connaughton, der sich jedoch zum gutverdienenden Lobbyisten in Washington wandelt; sowie der kalifornische PayPal-Mitgründer Peter Thiel.

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Affenkopf

Michele Melillo: not titled (Affenkopf), Ölkreide und Graphit auf Papier, 21 x 29,7 cm, 2012.

Gegensätze und Kontraste, Dinge, die gegeneinander und somit auch zusammengestellt etwas
erzeugen, das über das hinaus geht, was ihre einzelnen Teile darstellen, sind ein uraltes Thema
nicht nur der bildenden Kunst. So lässt sich auch aus den Werken Michele Melillos eine Art reflexive
Dialektik lesen, und zwar die des künstlerischen Subjektes. Denn indem sich dort zeichnerische
Motive des Barock mit geradezu fauvistischen Farborgien ein Stelldichein geben, stellen sie zum
einen die Frage nach dem künstlerischen Ausdruck ihres Erzeugers (seiner Identität gar) und
spiegeln zugleich den grundsätzlichen kulturtheoretischen Diskurs der Selbstreflektivität des
Künstlers wider.

So ist es kein Zufall, dass die Epoche des Barock in gewisser Weise eine Art Schwelle im
menschlichen Denken darstellt, einen Übergang von der reinen Repräsentation von Ähnlichkeiten
und Verwandtschaften unter den Dingen (die aber immer nur auf übergeordnete Konstrukte wie
Religion und Macht verweisen), hin zu einem neuen Referenzpunkt, zu dem sich Denken und
Erscheinungen verhalten: das Subjekt. Es geht nicht mehr um die Frage der Ähnlichkeiten, sondern
um die der Identitäten und Unterschiede. Die reine Repräsentation hat ausgedient; der Mensch wird
der wichtigste Bezugspunkt und rückt als Begriff in den Vordergrund.

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Ein Versuch über Schmutz und Film

ADer dickste Teppich, in dem meine Füße jemals versanken, befindet sich im Logenbereich des Sathyam Cinemas in Chennai. Der Regisseur K. Hariharan, mit dem ich in jenen Tagen viel Zeit in einem viel zu kalten Schneideraum verbrachte, nur unterbrochen von gelegentlicher Suppe und Samosas in der Studioküche, hatte uns zur Premiere von Om Puris neuestem Film, „The Hangman“, eingeladen. In diesem spielt er, worauf der Titel bereits dezent verweist, einen Henker, der im dramatischen Verlauf der fast dreistündigen Handlung seinen einzigen Sohn an die illegalen Verlockungen der Großstadt verliert und am Ende tatsächlich vom Lande her anreisen muss, um selbigen zu hängen, durch den obersten Richter persönlich gerufen, da er der Letzte und Beste seiner Zunft ist. Es wurde jedoch nicht gesungen. Warum fällt mir das gerade jetzt wieder ein? Wahrscheinlich, weil ich kürzlich „Charlie Wilson’s War“ sah, und auch Om Puri wieder, der dort General Muhammad Zia-ul-Haq verkörpert, seines Zeichens Staatsoberhaupt Pakistans von 1977 bis 1988 und emotionaler Joker in Joanne Herrings antikommunistischem Unterfangen, via den texanischen Abgeordneten Charles Nesbitt Wilson unglaublich hohe Geldbeträge im US-amerikanischen Kongress für die Bewaffnung der Mudschahedin freizumachen. Dies kann aus vielen verschiedenen Gründen interessant sein, ist es für mich aber hauptsächlich, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, ein Kreis würde sich nachträglich schließen zwischen den stickigen Stätten der indischen Filmindustrie und den kühlen grünen Tälern Afghanistans, die man auf dem Weg dorthin überquert, so man denn von Westen her anreist. Der Teppichboden in der Loge war übrigens fast vom gleichen Rot wie die Polsterbezüge der Air Force One in den 80er Jahren.

Sie fragen sich nun, lieber Leser, was dies wohl mit Schmutz zu tun haben soll, insbesondere mit Schmutz im Film, und Sie stellen sich diese Frage zurecht. Zunächst einmal nämlich gar nichts, es sei denn, man würde die ausgelatschten metaphorischen Pfade betreten wollen, auf denen alles mit allem zu tun hat und beispielsweise ein blitzsauberer flauschiger Teppich in einem indischen Großstadtkino nicht nur als Aufhänger für einen bemühten Diskurs zur Dialektik des Einschließens und Ausschließens, der Abgrenzung und des Einbezugs dienen könnte, sondern zugleich auch noch hinzeigt zu den tausend Plateaus, auf, unter und zwischen denen alle Dinge, Menschen und Ereignisse miteinander verknüpft und verwoben sind. Ein wenig esoterisch, nicht wahr?

Andererseits jedoch tatsächlich auch irgendwie – wahr. Denn der Begriff des Schmutzes hat immer auch mit der Sehnsucht nach Reinheit zu tun. Mit dem Guten und dem Schlechten. Mit dem, was man will und dem, was man nicht will. Der Schmutz ist also zunächst einmal per definitionem das, was nicht zu wollen ist, das Ausgeschlossene, das weg muss und bestimmt somit aber zugleich das Gute, Wahre, Schöne, also eben das, was sehr wohl zu wollen ist und in der Welt sein und auch bleiben soll. Der Begriff, mit dem wir es zu tun haben, ist folglich einer der Ausgrenzung, der zugleich immer auch dialektisch der Bestimmung dessen dient, zu dem er nicht gehören soll. Am Notausgang links sehen wir kurz Michel Foucault winken, bevor er leise den Saal verlässt. Popcorn holen, wahrscheinlich.

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Schifffahrt

Der behandelte Gegenstand ist klar: Hans Blumenberg, Philosoph, physisch anwesend in dieser Welt von 1920 bis 1996, Lordsiegelbewahrer der Metapherntheorie und wohl von deutschen Geisteswissenschaftlern meistzitierter Geisteswissenschaftler. Gegen Ende seiner Karriere wurde er sogar Liebling der Diskurstheorie, ohne dass er selbst je deren Begrifflichkeiten verwendet hätte.

Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman nun macht aus dem ehemals lebendigen Subjekt Hans Blumenberg, der ja bereits im Sinne der akademischen Heldenverehrung eine Art Figur war, final und literarisch eine solche. Diese Blumenbergfigur erhält eines Abends im Jahre 1982 in der dachstüblichen Arbeitsklause seines Münsteraner Hauses Besuch von einem Löwen, der plötzlich auf seinem Teppich liegt, ruhig, einfach anwesend.

Hoppla. Das Heldenverehrungsregelwerk des Akademikers will sich gegen eine derartige Profanisierung geistiger Vorbilder verwehren und schreit auf. So etwas kann doch nicht funktionieren. Fiktiv-reale Philosophenfiguren imaginieren paradigmatische Tiermetaphern. Wo kommt man denn da hin? Man stelle sich Derrida vor, wie er von einem Pudel be(heimge-)sucht wird, oder Foucault, von einem, äh, sagen wir – Greif.

Jedoch funktioniert dies hier überraschenderweise sehr gut. Der Löwe als Vater aller Metaphern wird sofort auf einer verschmitzten Metaebene wahrgenommen und eingeordnet: „Blumenberg wusste sofort, dass hier viel falsch zu machen war und nur eines richtig: abwarten und die Fassung behalten. Er wusste auch, dass in Gestalt des Löwen eine außerordentliche Ehre ihm widerfuhr, gleichsam eine Ehrenmitteilung der hohen Art war überbracht worden, von langer Hand vorbereitet und nach eingehender Prüfung ihm gewährt. Man traute Blumenberg offenbar zu, dass er in seinem schon etwas höheren Alter leichterdings damit fertig würde.“

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