— Paragraphien

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Babylon

„Was soll das denn eigentlich sein, ein Gehirn?“

Wie sich selbst im saturierten Bonner Umland langsam die Flucht und der Verfall zeigen, die aufgelassenen Sandsteinvillen, neonfarben befleckt, mit Fensterläden, die nur noch in einer Angel hängen. Mitten darin wie ein feistes Geschwür der Komplex der Telekom Bonn-Beuel, zwischen den Jahren verwaist, nur im betriebseigenen Fitnessstudio ein einsamer Fahrradsimulationsnutzer. Über dem Portal eines zentralen, sich grau aufblähenden Gebäudes der Schriftzug „Life is Grand“. Direkt an der Bahntrasse stehen die Parkdecks leer, am Transformator wachsen große kreisförmige Grasformationen zwischen schon lange dort liegenden aufgerollten Kabelmänteln. Je weiter man sich von den Stätten der Bonner Republik entfernt, desto höher wird die Frequenz der leeren Ladenlokale und der mit Brettern vernagelten Fenster. In 50 Jahren dann, wenn das Phänomen der Shrinking Cities von seinem einen wuchernden Gegenteil aus den Weiten der Brandenburger Steppen heraus antithetisch eingeholt wird und beide sich an diesem ganz speziellen Schnittpunkt treffen, wird ganz Deutschland von Berlin bedeckt sein und man sich ärgern, dass „Germania“ schon so negativ belegt ist, wenn man einen neuen Namen für diese große gesamturbane Hure finden muss. Auch „Babylon“ wird dann leider schon wieder vergeben sein.

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Ich frage mich, ob Baudrillard jemals in München war. Natürlich ist es müßig, über das Artifizielle dieser Stadt zu schreiben, und natürlich ist es unmöglich, absolute Standortbestimmung betreiben, in welcher möglichen Welt auch immer, ist doch alles immer nur Su(b)je(k)t und nie mehr als konstruierte Position, Behauptung und Erzählung. Trotzdem – mehr ist nicht da, selbst wenn die Pfade einmal nicht verschneit sind. Wir hangeln immer nur in der Leere umher und setzen willkürlich Fahnen ins Grün. Oder berühren die Tatzen metallener Löwen nahe Kirchen, Parks und botanischer Gärten, unter weißblauem Himmel.

“Das geheimgehaltene Denken ist das entscheidende, hatte ich zu Gambetti gesagt, nicht das ausgesprochene, nicht das veröffentlichte, das mit dem geheimgehaltenen sehr wenig, meistens überhaupt nichts gemeinsam hat und immer ein viel niedrigeres ist, als das geheimgehaltene, welches doch immer Alles ist, während das veröffentlichte, wie wir wissen, nur das notdürftigste ist.” // Thomas Bernhard – Auslöschung

Von diesem gleißt die Sonne hinab und vor der Theatinerkirche schreit eine Frau umher, doch selbst diese Art der obligatorischen Stadterscheinung wirkt hier nicht authentisch, sondern viel zu gut gekleidet, viel zu professionell in der Performanz des Zeterns und damit viel zu verstörend im diskursiven Ensemble dieser wahrlich barocken Theatermaschinerie. [Siehe dazu auch Freud und die hölzernen Krokodile im dunklen Wohnzimmer.]

Im Franziskaner Weißbierhaus saßen kurz zuvor am gleichen Tag drei statt zwei kleine Italiener, die exakt so, wie man es erwarten würde, die bedirndelte Bedienung anraunzten, warum denn keine italienischsprachige Speisekarte vorhanden sei – welche diese dann natürlich umgehend reichte. Die drei kleinen Italiener trugen rot-weiß geringelte Mohairpullover, Pilotensonnenbrillen und mehr Gel als Haar; bestellten dann drei Halbe. Natürlich.

In der Vorhalle des Hauses der Kunst muss man aufpassen, nicht auf die Hände der Menschen zu treten, die auf allen Vieren aus den bis zu hausgroßen, rosa maikäferförm- und mustrigen Installationen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama heraus- und in sie hineinkrabbeln; in den restlichen Räumen muss man aufpassen, nicht irrtümlich zu denken, dass man sich in die Wanddekorationsabteilung eines bekannten schwedischen Möbelhauses verlaufen hätte. Und dies gar nicht einmal ob der vielen Kinderwagen und Luftballons.

[…]

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Nachtleib

Cinema is the ultimate pervert art. It does not give you what you desire. It tells you how to desire. // Slavoj Žižek

[…] Sie sinkt herab, bricht herein, steigt gelassen an Land, die Nacht, Tochter des Chaos. (…) Wir wissen heute, dass die Periodizität der Nacht aus der Rotation der Erde um ihre eigene Achse entsteht. Diese Rotation hat nichts mit ‹Zuneigung› zu tun, nicht einmal mit der Sonnen-Anziehung, die durch die Laufbahn um die Sonne abgelenkt werden könnte, sondern sie rührt aus ihrem eigenen Innen her: Die Eigenrotation, anders gesagt, die Wanderung der Nacht um die Erde, ist Ergebnis ihrer inneren Verdichtung – und Verdunklung – aus Gasen zu Klumpen. Wohl für die Periodizität der Nacht, nicht aber für die Dunkelheit selbst ist die Rotation entscheidend. […]

Heinz-Gerhard Friese – Die Ästhetik der Nacht

 

>> [ The Pervert’s Guide ] / [ Senses of Cinema ] / [ Spielboden ]

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In the Woods

„Ich hatte drei Kalksteine auf meinem Pult liegen, fand aber zu meinem Entsetzen, dass sie tägliches Abstauben benötigten, während mein geistiger Hausrat noch unabgestaubt dastand, und voller Abscheu warf ich sie zum Fenster hinaus.“

Henry David Thoreau – Walden

>> [ Cabin Porn] / [ Life in the Woods]

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WTC 1

When the numbers get so high
Of the dead flying through the sky
O, I don’t know why
Love comes to me
Love comes to me

Wie es denn dann ganz praktisch war; materiell – die roten Stücke Fleisch überall, zwischen den Resten von allem, was einmal Zusammenhang hieß und stiftete. Die roten Spuren, und (ebenso) überall der Staub, Schlieren, Glas, Gehirn, das Vorher und das Nachher und die Frage, was man zeigen sollte und wer denn hier das „darf“ definiert. Jeder Fleischrest war einmal Teil von etwas, das „Ich“ sagen konnte, dies nun aber nicht mehr tut. Schuld daran ist weder ein System (in keiner von Menschen definierten, gesetzten Kategorie wie Himmelsrichtung, Kulturkreis oder Religion), noch irgendein Subjekt innerhalb dieser Referenzbezüge, sondern bloß die überall gleiche Conditio Humana, die es sich selbst zumeist versagt, mehr meta zu denken, als es zum bloßen Überleben braucht. Auch wenn dies manchmal eben nicht für alle gilt, sowohl das mit dem Denken wie auch das mit dem Überleben, wobei es oft, aber auch wiederum nicht immer miteinander korrespondiert. Zu weit gehen ist eine Frage der Definition des Begriffes der Grenze.

Abstraktion und Praxis, die Masse und das Individuum, das Rhizom und dessen Zusammenhänge, die Unfähigkeit der meisten Subjekte, überhaupt eine Vorstellung von einer umgreifenden Struktur zu entwickeln, geschweige denn, von dort aus begreifen zu können, dass diese Struktur nicht statisch, sondern hochdynamisch ist.

Die Unterkomplexität als Voraussetzung des Glücks im Sinne des gemeinsamen Nenners der meisten, das Referenzsystem der Nivellierung, das Einpegeln auf dem mittleren Grad.

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Vielleicht, weil es dich nur als den Einen gibt, hinter dem das Viele liegt.

WTC 2 WTC 3 WTC 4
WTC 5 WTC 6 WTC 7
WTC 8 WTC 9 WTC 10

 

Bildquelle: Anonymous / documentingreality.com
See also: Die Appropriation des Anderen

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