— Paragraphien

Archive
Tag "Kultur und Psyche"

Es klingelt an der Türe, ich öffne und Werner Herzog, Klaus Kinski sowie 200 peruanische Ureinwohner vom Stamme der Machiguenga stehen davor. Während Kinski grußlos an mir vorbei in den kleinen Raum der Gästetoilette geht, um diesen kniehoch mit Herbstlaub zu befüllen, welches er in einem Jutesack mitgebracht hat, proklamiert Herzog „Die Vögel singen nicht, sie schreien!“, um daraufhin die Ureinwohner ins Wohnzimmer zu führen, wo diese vermittels klobigen Werkzeugs die Wand zum Innenhof einreißen, in dem hinter der so erzeugten Öffnung ein alter, weißgestrichener Flussdampfer sichtbar wird. Während man im Folgenden damit beginnt, eine Art Rampe aus Erde zwischen Hof und Wohnzimmer aufzuschütten, nehme ich meine Schildkröte an die Leine und verschwinde grußlos, kurz noch begleitet vom lautstarken Rascheln hinter der Toilettentüre, im Treppenhaus.

Ganzen Artikel anzeigen

Es klingelt an der Türe, ich öffne und Marina Abramović sitzt davor, an einem überdimensionierten Holztisch, auf einem überdimensionierten Holzstuhl, gewandet in ein hochgeschlossenes filzig anmutendes Kleid von bunter Farbe. Sie starrt mich so lange grußlos an, bis ich weinen muss, weil ich plötzlich erkenne, dass „Wollen“ nicht gleichbedeutend ist mit „Sein“, und weder Bücher noch Pyramiden jemals etwas daran ändern können. Dann reicht sie mir einen großen Geldschein als Taschentuch, klappt sowohl Tisch wie auch Stuhl auf eine handliche Koffergröße zusammen und verschwindet mit beidem, weiterhin grußlos, doch nun plötzlich irgendwie bärtig wirkend, im Treppenhaus.

Ganzen Artikel anzeigen

Es klingelt an der Türe, ich öffne und Helmut Berger steht davor. Er geht grußlos an mir vorüber (vorbei?) in die Wohnung, zielstrebig Richtung Küche, wo er umgehend damit beginnt, das italienische Traditionsgericht Spaghetti Vongole zuzubereiten, um selbiges dann, nebst drei bis fünf Flaschen Stadlmann Zierfandler (dem Honivogl der Thermenregion), in sich hineinzuverbringen. Nach Verrichtung besagter Tätigkeiten wäscht er sich die Hände ausgiebig in Milch und verschwindet wieder, erneut grußlos, nun jedoch eine recht deutliche Note von Knoblauch und Lactat verströmend, im Treppenhaus.

Ganzen Artikel anzeigen

Es klingelt an der Türe, ich öffne und Joachim Lottmann steht davor. Er geht grußlos an mir vorbei (vorüber?) in die Wohnung, zielstrebig in Richtung des Badezimmers, wo er ein Vollbad einlässt und für die folgenden zwei Stunden sich in selbiges hineinverbringt. Nach Ablauf besagten Zeitraums trocknet er sich ab, zieht seine Kleidung an und verschwindet wieder, erneut grußlos, aber nun angenehm duftend, im Treppenhaus.

Ganzen Artikel anzeigen

KoH

Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt. Jede dritte Person trägt die Uniform der IDF, und alle sind sie auf dem Weg nach Hause, denn der Sabbat steht vor der Türe. Eine jede von ihnen wird am Eingang durch eine gesonderte Türe geschleust, vorbei an den Metalldetektoren. Denn hier bleibt die Waffe nicht in der Kaserne, ein „Dienstfrei“ gibt es nicht, jedenfalls nicht innerhalb der zwei (Frauen) bzw. drei (Männer) Jahre Wehrdienst, die ein jeder Bürger des Staates Israel abzuleisten hat. Das Standardmagazin des M4-Sturmgewehrs fasst 20 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition, und an diesem persönlich subjektiven Freitagnachmittag befinden sich in einem Radius von 500 Metern um den Erzähler dieser Geschichte ungefähr 100 M4-Sturmgewehre, durchgeladen und gesichert. Dies macht nach Adam Ries(e) 2000 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition; und sollte bei vollem Magazin eine weitere in den Lauf verbracht worden sein, wovon auszugehen ist, so sind 100 weitere hinzuzuzählen. 2100 Patronen 5,56 x 45 mm NATO-Munition an einem beliebigen Freitagnachmittag auf dem Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs, zwischen Zuckerwatteverkäufern, arabischen Großfamilien, christlich-orthodoxen Priestern, Schulklassen und Reisegruppen – und jeder Finger an jedem Abzug ist bereit zu tun, was zu tun ist, jederzeit und (höchstwahrscheinlich/naturgemäß) frei von Zweifel. Die Beklemmung, die man verspürt, wenn man an einem beliebigen Freitagnachmittag den Vorplatz des Jerusalemer Busbahnhofs betritt, geht nicht weg, wenn man ihn verlässt, sie geht nicht weg, wenn man gegrillten Fisch am Hafen in der Altstadt von Jaffa isst, oder Hummus und Schawarma, begleitet von Limonana, auf einer Dachterrasse nahe der Grabeskirche. Beim Waschen der Wäsche nicht, und nicht beim Sortieren der Bücher. Nicht im Supermarkt und nicht im Museum. Nichts davon geht weg, auch lange nach Verlassen des Landes; und der Erzähler dieser Geschichte ist doch nur jemand, der kurz zu Besuch war und von alledem nicht mehr hat als eine bloße Ahnung.

Ganzen Artikel anzeigen