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Rhizom

„GEGEND ENTWÜRFE ist ein Jahrbuch für Literatur aus einem gerne unterschätzten Landstrich, ein Schrei nach Liebe aus der Provinz und zur Provinz. GEGEND ENTWÜRFE ist geschützt und macht, was Literatur nicht darf: Halt an den Grenzen, zumindest den geographischen. Denn dieses Jahrbuch will die literarische Szene eines Bundeslandes vermessen, das in den letzten Jahren viel zu oft als Heimat des Eifelkrimis von sich reden gemacht hat. In Rheinland-Pfalz beginnt Literaturgeschichte gerne. Aber sie wird schnell flügge. Und dann kennt sie keine Grenzen mehr. GEGEND ENTWÜRFE zeigt Literatur im Neststadium – und noch einiges mehr: Rheinland-Pfalz als Ort des Infernos (nach Dante), große Nestflüchter aus Hamburg und Berlin, eine Kartographie des Preisregens und Gespräche über Gott und die Welt.“

Mit Beiträgen von Nina Sahm, Ken Yamamoto, Thomas Palzer, Emil Fadel, Michael Sieben, Nadja Schlüter, Ann-Kathrin Ast, Achim Stegmüller, Andreas Martin Widmann, Frank Hertweck, Kurt Flasch, Hans Thill, Ror Wolf, Dorian Steinhoff, Lutz Herrschaft, Erich Renner, Guido Rohm, Marion Poschmann, Monika Rinck, Christoph Peters, Nico Bleutge, Theresa Hahl, Hanns-Josef Ortheil, Jürgen Kross, Nora Bossong, Myriam Keil, Kristina Nenninger, Daniel Windheuser, Alice Kerpen, Manon Hopf, Andreas Berg, Philip Herold, Norbert Lange, Daniel Ableev, Harald Martenstein, Rainer Moritz, Mit Gesprächen zwischen: Ilija Trojanow, Jürgen Klopp, Philipp Wittmann und Henrik Hörmann, Nelli Kavouras, Marie Radkiewicz und Zarah Weiss. Collagen von Ror Wolf.

[Aus der Einführung des Kapitels Gegen-Maßnahmen: „Die poetische Anverwandlung des Hauptwerks von Claude Lévi-Strauss: ‚Traurige Tropen‘ hat sich Daniel Windheuser zur Aufgabe gemacht. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Tropen in Endzeitstimmung.“]

GEGEND ENTWÜRFE. Lesebuch für Literatur aus Rheinland-Pfalz
300 Seiten, Hardcover mit Fadenheftung
24,80 Euro (D), 25,40 Euro (A)
ISBN 978-3-939557-86-9

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Luxbooks I

Luxbooks II

Tropen, traurig

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Peter J. Smith for the Wall Street Journal

Seit Richard Price 1974 im Alter von 24 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, standen im Zentrum seines thematischen Universums immer die Arbeit der Gesetzeshüter sowie die Umtriebe auf der anderen Seite des Gesetzes, die diese Arbeit überhaupt erst notwendig machen. Trotzdem wird er nur selten als klassischer Krimiautor bezeichnet, vielmehr häuften sich über die Jahre die Stimmen, sowohl bei der Käuferschaft wie auch im Feuilleton, dass sein erzählerisches Talent ihn längst über derartige Genrebegriffe hinausgehoben habe.

Dies liegt nicht zuletzt an der realistischen Qualität seiner Dialoge, für die Price von Anfang an gefeiert wurde und die bereits 1986 die Aufmerksamkeit der Filmindustrie auf ihn lenkte, für die er seitdem regelmäßig Drehbücher verfasst – wie beispielsweise Die Farbe des Geldes, das ihm 1987 eine Oscar-Nominierung einbrachte.

Ebenso wirklichkeitsnah wie die Sprache seiner Protagonisten ist auch die moralische Landschaft, in der sie sich bewegen. Diese nämlich ist mitnichten von den üblichen Klischees der Kriminalgeschichte geprägt, vielmehr tun hier schlechte Menschen gute Dinge und umgekehrt, und nichts ist eindeutig schwarz oder weiß. Ganz eben wie im sogenannten echten Leben.

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The Hyena & Other Men

Der heutige Staat Nigeria ist nicht mehr als eine Erfindung britischer Offiziere, die im Jahre 1861 ein paar Linien auf der Landkarte zogen und das so umrissene Gebiet nach einem ebenfalls willkürlich benannten Fluss tauften, der durch es hindurchfließt. Nicht unbedingt ein sinnvoll identitätsstiftender Gründungsakt, denn in vorkolonialer Zeit existierten innerhalb dieser Grenzen so verschiedene Staaten wie die Yoruba-Königreiche Oyo und Ife im Süden, Benin im Südwesten, das Kalifat von Sokoto im Nordwesten und die Emirate der Hausa im Norden, jedoch ebenfalls Gesellschaftsformen ganz ohne zentrale politische Autorität.

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Land, bei dessen Erschaffung weder auf naturräumliche, noch sprachliche oder kulturelle Gegebenheiten Rücksicht genommen wurde, nach Erlangung seiner Unabhängigkeit anno 1960 in einem veritablen postkolonialen Chaos versank. Gewissermaßen gibt es Nigeria eigentlich gar nicht, und auch keine Nigerianier. Eine gemeinsame Identität als etwas kulturell über einen langen Zeitraum Gewachsenes ist beim besten Willen nicht erkennbar.

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Wand

Es fällt mir sehr schwer, mich genau zu erinnern. Man sagte mir, ich hätte die beiden vergangenen Jahre in einem Kellerverlies unterhalb des Grill Royal verbracht, hineinkonstruiert zwischen Vorratsräumen und Heizkeller, mit eigenem Luft- und Abwassersystem. Es war komplett eingerichtet mit weißen Möbeln, die exakt so aussahen wie aus der beliebten Billy-Reihe eines großen schwedischen Möbelhauses, jedoch viel besser verarbeitet waren. Bei Hochwasser schwappte die Spree durch das oben gelegene Fenster hinein und durchnässte das Strohlager und meine Notizen. Man mischte mir täglich Drogen ins Essen, wohl eine Mischung aus Peyote und Amphetaminen, und ich muss unfassbar viel Text produziert haben, ausgehend von den Manuskripten, die in den Schränken des Vorraumes gefunden wurden. Ich weiß noch, dass einmal im Monat ein Herr in einem gutgeschnittenen Anzug, das war wahrscheinlich der Herr von Eden, mit Pomade im Haar, vorbei kam, die aktuelle Produktion begutachtete und Verwendbares mitnahm. Ab und an schauten auch seine Kollegen, die Frau Eggers und der Herr Landwehr, herein, und lockerten die zumeist recht eintönige Kost aus Fleisch-, Kartoffel- und Salatresten mittels mitgebrachter Präsentkörbe aus dem Hause Butter Lindner auf.

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Anna Coleman Ladd

Der Titel des achten Romans von Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben (im Original Au revoir là-haut), ist dem Brief eines französischen Soldaten entnommen, den dieser kurz vor seiner Exekution als angeblicher Kriegsverräter im Jahre 1914 schrieb. Jedoch auch ohne Kenntnis dieses Details setzt der kurze Gruß eine signifikante thematische wie auch emotionale Klammer um die Handlung des Buches. Im vergangenen Jahr mit Frankreichs bekanntestem Literaturpreis, dem Prix Goncourt ausgezeichnet, porträtiert Wir sehen uns dort oben eine Gesellschaft, die darum bemüht ist, ihre Toten zu ehren und unterdessen ihre Lebenden, die Veteranen, vergisst. Mit seinem vergleichsweise schnellen Tempo und der Einflechtung von zeitgenössischem „Slang“ der 1920er-Jahre ist der Text dabei eher mit Lemaitres älteren Werken, allesamt erfolgreiche Kriminalromane und Thriller, zu vergleichen, und setzt sich damit auf untypische Weise ab von den meisten preisgekrönten Romanen der jüngsten Vergangenheit.

Wir sehen uns dort oben verknüpft zwei Erzählstränge miteinander, die beide am 2. November 1918 beginnen, kurz vor dem Waffenstillstand. Henri d’Aulnay-Pradelle, ein adeliger Leutnant der französischen Armee, hofft vor dem sich bereits deutlich abzeichnenden Ende des Krieges noch ein wenig Ruhm zwecks Förderung der eigenen Offizierskarriere einstreichen zu können, indem er seiner Einheit Befehle gibt, die ein taktisch eigentlich unnötiges Gefecht mit deutschen Truppen provozieren sollen. Dazu sucht er jeweils das jüngste wie das älteste Mitglied des Bataillons als Vorhut aus und schießt beiden während ihres Vorrückens heimlich aus der Deckung in den Rücken, um so den Rest seiner Männer, die dies für das Werk des Feindes halten, zum Angriff zu motivieren.

Zwei der Soldaten, Albert Maillard und Édouard Péricourt, sind zwar Zeugen von Pradelles „Methode“, werden jedoch kurz darauf beide schwer verwundet. Im Erdreich verschüttet, wird Albert von Édouard das Leben gerettet, indem dieser auf Alberts Körper springt, um so sein Herz zum Weiterschlagen zu animieren. Genau in diesem Moment trifft Péricourt ein Granatsplitter, der sein Gesicht beinahe vollständig zerstört.

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