— Paragraphien

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Externalisierungen

Es sind ja immer nur bestimmte Bilder, die haften bleiben. Und es ist eine Wissenschaft, über Momente zu sprechen, die aufgrund ihrer spezifischen Zusammensetzung einen Platz bewahrenswerter Einzigartigkeit zugewiesen bekommen, in der Erinnerung. Ihre Wertigkeit bestimmen sie selbst.

Ein sanfter Wind weht, von draußen, vom offenen Meer her, er ist warm und schafft es gerade so, unangestrengt die Häupter der Palmen in ein leichtes Schwingen zu versetzen. Es ist fast vollkommen still, nur die Wellen plätschern leise, fast zaghaft, und aus weiter Ferne, von irgendwo hinter den Hügeln, vermögen nur vereinzelte Fetzen von Sprache und Musik uns zu erreichen, abgehackt und unverständlich. In keiner der umstehenden Hütten brennt Licht, und so liegt die gesamte Bucht im Glanz des Mondes, silbrig angestrahlt, erstaunlich hell. Zwischen zerfließenden und immer neu entstehenden Ringen, Kreisen und Ellipsen wiegen sich leicht die Boote, fast unbemerkt, im angehaltenen Atem des Wassers hin und her.

[Fundstück, ca. 2001]

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>> [Montaigne]

Der Schweizer Bühnenautor hatte zum provençalischen Pflaumenhuhn geladen, draußen, in der Villa am See. Während die frühen ersten Gäste in der großen chromenen Institutsküche den verschiedenen ihnen zugewiesenen Zuarbeiten nachkamen, berichtete das recht junge Institutsfaktotum, welches, inkarniert in den schlaksigen Körper eines homosexuellen Rheinländers und in gewisser Weise naturgemäß, also sowohl seinem Wesen als auch seiner Rolle entsprechend, die eigentliche Kraft war, die den Betrieb (sowohl den auf die Villa bezogenen wie auch diesen anderen, größeren, noch abstrakteren) am Laufen hielt, während der eigentliche Institutsleiter die meiste Zeit auf seinem alten russischen Motorrad die umliegenden Wälder erkundete und ansonsten höchst selten, um genau zu sein, eigentlich nur, wenn offene Weinflaschen im Spiel waren, auf dem weitläufigen Parkgelände des Seegrundstücks in Erscheinung trat, wobei wiederum natürlich diese schwankende Stelle im System auch nicht unterzubewerten ist, gerade auch im Hinblick auf das Ausgleichen von Schwingungsbewegungen anderer älterer Herrschaften, sowohl das Gemüt betreffend wie auch die ganz konkrete Physis – jedenfalls berichtete das junge Institutsfaktotum also, während ich selbst Kartoffeln schälte und zugleich versuchte, aus den singulären Elementen „Flasche Madeira neben Kochtopf“, „mauretanisch geprägte blaue Muster auf den Kacheln“ sowie „Provence“ eine sinnvolle assoziative Kette zu bilden, von der soeben erfolgten Anfrage eines Redakteurs des „Stern“ (wahrscheinlich Stephan Maus, wie es ja immer Stephan Maus ist), ob denn nicht einer der Stipendiaten im Hause vielleicht Lust hätte, ein launiges Stück für den „Stern“ zu schreiben, und zwar über den weltberühmten Akteur Brad Pitt, der doch gerade, quasi ums Eck, in dem von seinem Kollegen, ja, guten Freund Tom Cruise gemieteten Anwesen logiere, und da böte es sich doch an, mal schauen zu gehen, vielleicht sähe man ja etwas.

Wenn nicht, sei es aber auch nicht schlimm, so oder so habe man doch bestimmt etwas von dem ganzen Brimborium mitbekommen, und irgendetwas werde doch irgendwem schon einfallen, diese jungen Schriftsteller hätten doch immer Ideen, schließlich sei dies doch ihr täglich Brot.

Dieser Bericht des Institutsfaktotums führte zu diversen, verschiedensten und doch einander ähnlichen Impulsen und Fragen, so der nach einer möglichen Entlohnung für besagten Artikel, aber auch Berichten über dunkle Limousinen sowie Personenschützer in den üblich schlecht sitzenden Anzügen und schließlich zu dem Beschluss, nach dem Essen einfach mal hinüberzugehen, vielleicht stehe der Herr Pitt ja gerade mit Bademantel im Garten und betrachte den Sternenhimmel, man wüsste ja nie.

Das provençalische Huhn hatte gerade den Ofen bezogen, als der letzte noch fehlende Gast zum sowohl arbeitsvermeidend wie auch dramaturgisch perfekten Zeitpunkt, nur mit einem rosafarbenen Hausmantel bekleidet, im Rahmen der Küchentür erschien. Ihre hellblond gefärbte 80er-Frisur mit Undercut hatte die genau adäquate Zerzaustheit, der überbordende Mascara den genau richtigen Grad von Zerwischtheit und das Rasiermesser in ihrer Hand den genau richtigen Grad von Blutverschmiertheit. Nur das Blut aus ihren Handgelenken wollte nicht so richtig fließen, noch nicht einmal von tropfen konnte man sprechen, eigentlich sogar konnte man sich fast fragen, ob denn da überhaupt ernsthaft geschnitten worden war.

[…]

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„Es ist der stete Neubezug, der die hier versammelten Versionen des Erzählten in ihrer Vielfalt und Eigensinnigkeit vereint. Vier Erzählungen des uruguayischen Autors Juan Carlos Onetti setzten vor vier Jahren ein einmaliges Schreibprojekt junger deutschsprachiger Autorinnen und Autoren in Gang. Seitdem entstanden über 30 Coverversionen – Paraphrasen, Parodien, Aktualisierungen, Annäherungen und Abstoßungen – alle einmalig in ihrem Ansatz. Nach der ersten Ausgabe Covering Onetti (2009) liegen mit Re-Covered nun 22 Texte vor, die nicht mehr nur Onettis Texte sondern auch die vorangegangenen Coverversionen sampeln. Diese Anthologie versammelt die literarischen Stimmen von morgen.“

Mit Texten von Mario Apel, Luise Boege, Silke Eggert, Jens Eisel, Sandra Gugić, Philipp Günzel, Bettina Hartz, Roman Israel, Katharina Kaps, Thorsten Krämer, Georg Leß, Babet Mader, Yulia Marfutova, Tom Müller, Laetizia Praiss, Sascha Reh, Donata Rigg, Marc Oliver Rühle, Martin Spieß, Gerhild Steinbuch, Florian Wacker, Robert Wenrich und Daniel Windheuser.

RE-COVERED. Neue deutschsprachige Prosa
192 Seiten, Softcover, Englische Broschur
10,00 Euro (D), 10,20 Euro (A)
ISBN 978-3-9812062-9-6

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Lettretagebuch

Kreuzwort

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Durch das Fenster des Flugzeuges sah man die uralten Länder sich ausbreiten, unter deren Sand kein Königreich mehr zu finden ist. Die milchigen, hellblauen Seen zwischen Quadratkilometern gelben und braunen Ödlandes, unter deren Oberfläche die Strömung Muster in den sandigen Grund zeichnet, Richtungsfelder, die nur von oben zu sehen sind, große Pfeile ohne Magnet. Auf den dunkleren Bergzügen weitläufige, sich verästelnde Wege, kleine Siedlungen miteinander verbindend oder ins Nichts führend, verschwindend in dunklen Schluchten oder in der sich plötzlich auftuenden Weite der großen Wüste. Später die kühlen, grünen Täler, Rücken riesiger, ewig schlafender Tiere, in Granit gekauert. Dann Nacht, der ausglimmenden Dämmerung in 10.000 Meter Höhe folgend, am gekrümmten Schnittpunkt zwischen Atmosphäre und Unendlichkeit.

Ich verließ die Abfertigungshalle in der Nacht und sowohl der Fahrer als auch sein Assistent hatten nicht mehr als eine ungefähre Ahnung von dem Ort, an den ich zu bringen sei. So fuhren wir lange Stunden durch die leeren staubigen Straßen, an vereinzelten Polizisten vorbei, die in verschiedene Richtungen wiesen, um schließlich doch, durch Zufall natürlich, das zurückgesetzte dunkle Haus zu finden, hinter bewachsenen Mauern, umschmiegt von großen Bäumen. Am Nachbargebäude zierten große goldene Swastiken die Balkone, glitzernd im schwankenden Licht der Laternen.

Das Appartement teile ich mir mit einem Mädchen nie gehörten Namens. Ich sitze in dem unglaublich großen Wohnzimmer an einem viel zu kleinen Sekretär, auf einem viel zu niedrigen Stuhl. Durch die vergitterten, weiß gestrichenen Fenster ragen beinahe die Palmen herein; zwischen angegilbten Zweigen die Straße, überflutet von braunem Wasser. An der Toreinfahrt stehen ratlose Frauen, die Hände an den Säumen ihrer Saris, unentschlossen, die Fluten zu durchqueren. Ein grauhaariger Mann steigt auf sein Fahrrad und fährt zum trockenen Mittelstreifen. Hinten, in der Küche, verkocht der Reis und rechts singt Thom Yorke aus kleinen schwarzen Boxen. Auf dem Sekretär steht ein illustrierter Abreißkalender, der auf gelblichem Grund zwei verschiedenartige Hunde und einen angeschnittenen Gugelhupf zeigt. Durch die Bäume huschen Eichhörnchen, die wie Ratten aussehen. Ratten mit buschigem Schwanz.

In einer Schublade fand ich ein Photo, auf dem ist eine hübsche Amerikanerin zu sehen. Sie sitzt auf einem Bett, in einem chinesischen Hotelzimmer. Ich weiß, wo dieses Hotel steht, kenne seine Betten und Webstoffe, die bronzenen Armaturen, mit denen nichts mehr zu regeln ist, kein Radio und keine Lüftung, kenne die Treppenhäuser und den kleinen Raum der Etagenwächterin, die Plastikbehältnisse und die gelblich schimmernden Wäschehaufen, kenne die Blicke aus den Fenstern, den metallenen Handwagen und das Fleisch, das er trägt, den Rauch, der sich meterhoch in die selten kalten Nächte erhebt, noch weit hinaus über die Bäume und Gebäude, wie ein großer weißer Vorschlag, wie ein unbefangener Gruß. Ich weiß, dass man nicht weit gehen muss, den See zu sehen. Die farbigen Neongründe, in die er sich schon zur Dämmerung hüllt, sind mir wohl bekannt. Sie spricht die Sprache des Landes, die hübsche Amerikanerin, und bestimmt sind ihre Fußsohlen weich wie Hasenfell, ihre Zähne scharf wie Zollkontrollen. Wie ein dunkler Gedanke verspürte ich den Wunsch, mit ihr auf den Grund der tiefsten Schlucht des Landes zu stoßen, weitab der geführten Gruppen und der Plastikstühle. Die Zungen der Schweine schmecken sehr gut, in diesem Teil des Staates.

[…]

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