— Paragraphien

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Durch das Fenster des Flugzeuges sah man die uralten Länder sich ausbreiten, unter deren Sand kein Königreich mehr zu finden ist. Die milchigen, hellblauen Seen zwischen Quadratkilometern gelben und braunen Ödlandes, unter deren Oberfläche die Strömung Muster in den sandigen Grund zeichnet, Richtungsfelder, die nur von oben zu sehen sind, große Pfeile ohne Magnet. Auf den dunkleren Bergzügen weitläufige, sich verästelnde Wege, kleine Siedlungen miteinander verbindend oder ins Nichts führend, verschwindend in dunklen Schluchten oder in der sich plötzlich auftuenden Weite der großen Wüste. Später die kühlen, grünen Täler, Rücken riesiger, ewig schlafender Tiere, in Granit gekauert. Dann Nacht, der ausglimmenden Dämmerung in 10.000 Meter Höhe folgend, am gekrümmten Schnittpunkt zwischen Atmosphäre und Unendlichkeit.

Ich verließ die Abfertigungshalle in der Nacht und sowohl der Fahrer als auch sein Assistent hatten nicht mehr als eine ungefähre Ahnung von dem Ort, an den ich zu bringen sei. So fuhren wir lange Stunden durch die leeren staubigen Straßen, an vereinzelten Polizisten vorbei, die in verschiedene Richtungen wiesen, um schließlich doch, durch Zufall natürlich, das zurückgesetzte dunkle Haus zu finden, hinter bewachsenen Mauern, umschmiegt von großen Bäumen. Am Nachbargebäude zierten große goldene Swastiken die Balkone, glitzernd im schwankenden Licht der Laternen.

Das Appartement teile ich mir mit einem Mädchen nie gehörten Namens. Ich sitze in dem unglaublich großen Wohnzimmer an einem viel zu kleinen Sekretär, auf einem viel zu niedrigen Stuhl. Durch die vergitterten, weiß gestrichenen Fenster ragen beinahe die Palmen herein; zwischen angegilbten Zweigen die Straße, überflutet von braunem Wasser. An der Toreinfahrt stehen ratlose Frauen, die Hände an den Säumen ihrer Saris, unentschlossen, die Fluten zu durchqueren. Ein grauhaariger Mann steigt auf sein Fahrrad und fährt zum trockenen Mittelstreifen. Hinten, in der Küche, verkocht der Reis und rechts singt Thom Yorke aus kleinen schwarzen Boxen. Auf dem Sekretär steht ein illustrierter Abreißkalender, der auf gelblichem Grund zwei verschiedenartige Hunde und einen angeschnittenen Gugelhupf zeigt. Durch die Bäume huschen Eichhörnchen, die wie Ratten aussehen. Ratten mit buschigem Schwanz.

In einer Schublade fand ich ein Photo, auf dem ist eine hübsche Amerikanerin zu sehen. Sie sitzt auf einem Bett, in einem chinesischen Hotelzimmer. Ich weiß, wo dieses Hotel steht, kenne seine Betten und Webstoffe, die bronzenen Armaturen, mit denen nichts mehr zu regeln ist, kein Radio und keine Lüftung, kenne die Treppenhäuser und den kleinen Raum der Etagenwächterin, die Plastikbehältnisse und die gelblich schimmernden Wäschehaufen, kenne die Blicke aus den Fenstern, den metallenen Handwagen und das Fleisch, das er trägt, den Rauch, der sich meterhoch in die selten kalten Nächte erhebt, noch weit hinaus über die Bäume und Gebäude, wie ein großer weißer Vorschlag, wie ein unbefangener Gruß. Ich weiß, dass man nicht weit gehen muss, den See zu sehen. Die farbigen Neongründe, in die er sich schon zur Dämmerung hüllt, sind mir wohl bekannt. Sie spricht die Sprache des Landes, die hübsche Amerikanerin, und bestimmt sind ihre Fußsohlen weich wie Hasenfell, ihre Zähne scharf wie Zollkontrollen. Wie ein dunkler Gedanke verspürte ich den Wunsch, mit ihr auf den Grund der tiefsten Schlucht des Landes zu stoßen, weitab der geführten Gruppen und der Plastikstühle. Die Zungen der Schweine schmecken sehr gut, in diesem Teil des Staates.

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Snow White

Es riecht nach Holzkohle und Blumen am Hauptportal des Longhua Funeral Parlors in der industriellen Peripherie Shanghais. Rechts und links des Tores kauern sich zur Straße hin offene Läden in den Schatten eines Autobahnzubringers, in einem der Geschäfte, das sich auf Grabsteinplaketten spezialisiert hat, photoshopt soeben ein Angestellter im Beisein eines Kunden ein Bild dessen verstorbenen Großvaters. In einer Vitrine liegen neben alten Emailleplaketten, auf denen Uniformträger und glückliche Ehepaare in Schwarz-Weiß zu sehen sind, kolorierte Beispielvarianten mit dem Abbild Britney Spears’.

Auf dem Gelände selbst fällt als erstes das wohl erst kürzlich errichtete Hauptgebäude auf, das sich mit einer architektonischen Mischung aus Bauhaus und Star Wars über diverse Aussegnungshallen, ein Krematorium und ein eher gastronomisch orientiertes Bauwerk, in dem sich mehrere Dinnersäle befinden, deren Belegung aus einer digitalen Anzeigetafel neben dem Eingang zu ersehen ist, erhebt. Betritt man das Hauptgebäude selbst, findet man sich in einer großen Empfangshalle wieder, die sich über alle vier Stockwerke hinweg bis unter das Dach erstreckt; das Muster auf dem blanken Marmorboden leitet den Blick vorbei an diversen Schaukästen, in denen mit Preisschildern ausgezeichnete Urnen stehen, hin zu einem sehr breiten Empfangstresen, über dem ein circa zehn Meter hohes Gemälde hängt, das den Zirkel des Lebens so zeigt, wie ihn Gustav Klimt wohl gestaltet hätte, wäre er an der Schwelle zum neuen Jahrtausend in China auf die Welt gekommen.

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Weihnachtsserviette

Das Pekinger Stadthofhaus von Blixa Bargeld. Die Saturiertheit des Geistes und der Zustände. Ich bin unterwegs in einer Melange aus Jetlag und Alkohol, aus Flugangst und Misanthropie. Und den Herd hat auch wieder niemand ausgestellt. Fahrstuhl, Taxi, Gepäckwagen, Verlust jeglicher Contenance. Der Sprung an den Hals des nächstbesten Unverantwortlichen.

[…] Denn alles, was gedacht wird, ist überflüssig. Die Natur braucht das Denken nicht, sagt Oehler, nur der menschliche Hochmut denkt sein Denken ununterbrochen in die Natur hinein. Was uns durch und durch deprimieren muß, ist die Tatsache, daß wir durch dieses unverschämte Denken in die gegen dieses Denken naturgemäß völlig immunisierte Natur hinein nur immer noch in eine größere Deprimation hineinkommen, als die, in der wir schon sind. Die Zustände werden durch unser Denken naturgemäß, sagte Oehler, zu immer noch unerträglicheren Zuständen. Denken wir, wir machen die unerträglichen Zustände zu erträglichen Zuständen, so müssen wir bald einsehen, daß wir die unerträglichen Zustände nicht zu erträglichen und auch nicht zu erträglicheren Zuständen gemacht haben (machen haben können), sondern nur noch zu noch unerträglicheren Zuständen. Und mit den Umständen ist es wie mit den Zuständen, sagte Oehler, und mit den Tatsachen ist es dasselbe. Der ganze Lebensprozess ist ein Verschlimmerungsprozess, in dem sich fortwährend, dies Gesetz ist das grausamste, alles verschlimmert. […]

Thomas Bernhard – Gehen

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Kimono

Gesa Johanna Roskamp: KIMONO, 2006, Öl auf Segeltuch, 55 x 68 x 16 cm

Will man Gesa Johanna Roskamp in ihrem Atelier besuchen, so muss man weit in den Norden Berlins fahren. Dort befindet sich, an einer großen Einfallstraße, umringt von geduckten Plattenbauten, ein altes Gebäude aus früher DDR-Zeit, in dessen Hohlräumen wahrscheinlich der Asbest tanzt und bestimmt die Geschichte. Nach der Wende bot es für einige Zeit diversen Exotenfächern der Humboldt-Universität Obdach, wovon noch die Beschriftungen an manchen aufgelassenen Räumen zeugen, deren Anblick teilweise jedoch auch an ganz andere Umstände erinnert. Es gibt lange, linoleumbedeckte Flure, leere Zimmer, alte Telefone, zurückgelassene Dekorationen, Unmengen toter Fliegen vor kalten Heizkörpern, hier einen Papierkorb, dort einen Wandkalender von 2002, abgerissene Jalousien, einen halb übermalten Zeitungsausriss mit dem Bild Christoph Schlingensiefs, Blumentapeten aus den 60ern, einen Transformator in der sonst ausgeräumten Pförtnerloge, einen holzgetäfelten Aufzug. Abstruse Formen des Kunstschaffens und der Lagerkultur. Von irgendwoher Musik.

Nach dem Abzug der Akademiker vermittelte die Kunsthochschule Weißensee ihren Studenten hier günstige Atelierräume und mittlerweile lassen sich diese frei von der Baugenossenschaft mieten. Auf der ersten Etage befinden sich die Räumlichkeiten eines privaten Archäologieunternehmens, das im Auftrag des Landesdenkmalamtes Grabungen nahe des Alexanderplatzes leitet, wo bei Aushebungen für ein unterirdisches Parkhaus im letzten Jahr die Überreste eines Friedhofs aus dem 18. Jahrhundert gefunden wurden. An den Wänden hängen kopierte Stadtpläne mit orangefarben markierten Grabungsstätten, an einer Tür klebt der Hinweis: „Funde von St. Georgenkirche bitte in den Raum 260 im Flur ganz hinten links“. Bis vor Kurzem lagerte hier noch eine große Zahl menschlicher Knochen, nach anatomischen Kategorien sortiert, ihre letzte Hülle seit Jahrhunderten längst abgelegt.

Auf eben diesem Flur, inmitten all dessen, befindet sich, einer Oase gleich, Gesa Roskamps Atelier. Auch sie, 1982 in Ostercappeln geboren, einem kleinen Ort bei Osnabrück, ist auf Vermittlung ihrer Alma Mater Weißensee, wo sie zunächst bei Katharina Grosse studierte und später dann bei Antje Majewski, hierher geraten. 2008 war ihr Meisterschülerinnenjahr. Ihr kleiner Raum geht zur Straße hinaus und vormittags ist das Licht am besten. Es gibt einen Tisch, zwei Stühle und diverse Regale voller Malutensilien. Und natürlich Leinwände, viele Leinwände, auf denen Farbe ist und Dinge sich zeigen. Dinge, die man nicht sieht. Gesa Roskamp malt keine Porträts, sondern verhüllte Körper, die wiederum nur Platzhalter sind für das, was sich hinter und in ihnen verbirgt.Der uralte Diskurs von Verhüllen und Enthüllen, von Sichtbar und Unsichtbar zeigt sich in einer ganz neuen, anderen Variante.

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Ein Versuch über Schmutz und Film

ADer dickste Teppich, in dem meine Füße jemals versanken, befindet sich im Logenbereich des Sathyam Cinemas in Chennai. Der Regisseur K. Hariharan, mit dem ich in jenen Tagen viel Zeit in einem viel zu kalten Schneideraum verbrachte, nur unterbrochen von gelegentlicher Suppe und Samosas in der Studioküche, hatte uns zur Premiere von Om Puris neuestem Film, „The Hangman“, eingeladen. In diesem spielt er, worauf der Titel bereits dezent verweist, einen Henker, der im dramatischen Verlauf der fast dreistündigen Handlung seinen einzigen Sohn an die illegalen Verlockungen der Großstadt verliert und am Ende tatsächlich vom Lande her anreisen muss, um selbigen zu hängen, durch den obersten Richter persönlich gerufen, da er der Letzte und Beste seiner Zunft ist. Es wurde jedoch nicht gesungen. Warum fällt mir das gerade jetzt wieder ein? Wahrscheinlich, weil ich kürzlich „Charlie Wilson’s War“ sah, und auch Om Puri wieder, der dort General Muhammad Zia-ul-Haq verkörpert, seines Zeichens Staatsoberhaupt Pakistans von 1977 bis 1988 und emotionaler Joker in Joanne Herrings antikommunistischem Unterfangen, via den texanischen Abgeordneten Charles Nesbitt Wilson unglaublich hohe Geldbeträge im US-amerikanischen Kongress für die Bewaffnung der Mudschahedin freizumachen. Dies kann aus vielen verschiedenen Gründen interessant sein, ist es für mich aber hauptsächlich, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, ein Kreis würde sich nachträglich schließen zwischen den stickigen Stätten der indischen Filmindustrie und den kühlen grünen Tälern Afghanistans, die man auf dem Weg dorthin überquert, so man denn von Westen her anreist. Der Teppichboden in der Loge war übrigens fast vom gleichen Rot wie die Polsterbezüge der Air Force One in den 80er Jahren.

Sie fragen sich nun, lieber Leser, was dies wohl mit Schmutz zu tun haben soll, insbesondere mit Schmutz im Film, und Sie stellen sich diese Frage zurecht. Zunächst einmal nämlich gar nichts, es sei denn, man würde die ausgelatschten metaphorischen Pfade betreten wollen, auf denen alles mit allem zu tun hat und beispielsweise ein blitzsauberer flauschiger Teppich in einem indischen Großstadtkino nicht nur als Aufhänger für einen bemühten Diskurs zur Dialektik des Einschließens und Ausschließens, der Abgrenzung und des Einbezugs dienen könnte, sondern zugleich auch noch hinzeigt zu den tausend Plateaus, auf, unter und zwischen denen alle Dinge, Menschen und Ereignisse miteinander verknüpft und verwoben sind. Ein wenig esoterisch, nicht wahr?

Andererseits jedoch tatsächlich auch irgendwie – wahr. Denn der Begriff des Schmutzes hat immer auch mit der Sehnsucht nach Reinheit zu tun. Mit dem Guten und dem Schlechten. Mit dem, was man will und dem, was man nicht will. Der Schmutz ist also zunächst einmal per definitionem das, was nicht zu wollen ist, das Ausgeschlossene, das weg muss und bestimmt somit aber zugleich das Gute, Wahre, Schöne, also eben das, was sehr wohl zu wollen ist und in der Welt sein und auch bleiben soll. Der Begriff, mit dem wir es zu tun haben, ist folglich einer der Ausgrenzung, der zugleich immer auch dialektisch der Bestimmung dessen dient, zu dem er nicht gehören soll. Am Notausgang links sehen wir kurz Michel Foucault winken, bevor er leise den Saal verlässt. Popcorn holen, wahrscheinlich.

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