— Paragraphien

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Ute Mahler/Ostkreuz

Man könnte sagen, dass hier die Geschichte einer amourösen Dreiecksbeziehung erzählt wird. Ebenso könnte man sagen, dass Die Gierigen, das mittlerweile neunte Werk der französischen Autorin Karine Tuil, ein Gesellschaftsroman ist, der die klassischen Fragen nach Identität und Erfolg in zeitgenössischen Variationen auslotet. Vielleicht sollte man sich mit einer Etikettierung des Texts aber auch gar nicht so eindeutig festlegen, denn genau wie in den Leben der Protagonisten sind auch hier solche Zuschreibungen eher Einschränkung als Erklärung.

Alles beginnt Mitte der 80er Jahre an der juristischen Fakultät in Paris. Dort treffen Samir, Samuel und Nina aufeinander. Samir ist der Sohn tunesischer Migranten, aufgewachsen in den ärmlichen Verhältnissen der Banlieue; Samuel das Kind eines jüdischstämmigen Intellektuellenpaars. (So jedenfalls glaubt er, bis er achtzehn ist.) Dazwischen die extravagante Nina, der ihre Schönheit und der Effekt, den diese auf Männer haben kann, schon immer selbst ein wenig unheimlich waren.

Nina und Samuel führen bereits eine Beziehung miteinander, als sie Samir kennenlernen. Zunächst ist das Paar auf rein platonische Art sehr angetan von Samir. Dann jedoch kommen Samuels Eltern, mit denen er seit seinem 18. Geburtstag kaum mehr ein Wort geredet hat, bei einem Autounfall ums Leben. Am ersten Tag seiner Volljährigkeit hatten sie ihrem orthodox erzogenen Sohn eröffnet, dass er adoptiert worden war und seine leibliche Mutter eine polnische Bauerstochter sei.

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Family Issues

Die Geschichte der Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist, unterbrochen nur von kurzen Blütephasen, größtenteils geprägt von Zwang, Unterdrückung, Pogromen und gewalttätigen Übergriffen. Als Ende der 1980er Jahre eine erneute Welle des Antisemitismus einsetzt, sahen sich viele dazu veranlasst, ihre Heimat nach der Öffnung der Grenzen zu verlassen.

In der BRD trat mit einem Beschluss der Innenministerkonferenz 1991 die sogenannte Kontingentflüchtlingsregelung für Juden aus der sich in Auflösung befindlichen UdSSR in Kraft, die es ermöglichte, einen permanenten Aufenthaltsstatus im wiedervereinigten Deutschland zu erhalten, was eine Arbeitserlaubnis sowie den Zugang zum deutschen Sozial- und Bildungssystem einschloss.

Und so entschieden sich, keine 50 Jahre nach dem Holocaust, rund eine Viertelmillion postsowjetischer Juden, sich ausgerechnet in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Dem Judentum im Kommunismus vielfach entfremdet, erwarteten sie sich bessere Zukunftsperspektiven.

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MetaMetaMeta

Das (in den USA äußerst erfolgreiche) Debüt des bisher hauptsächlich als Printredakteur und Fernsehautor tätigen J. Ryan Stradal ist zunächst einmal eine kulinarische Reise durch dessen Heimatregion, eben durch und in Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens. Hierbei entfaltet sich nicht nur ein wunderbares Panorama, bestehend aus Lokalkolorit und (auch familiären) Traditionen – mit Szenen wie beispielsweise todernsten Backwettbewerben in lutherischen Glaubenshäusern oder Teenagern, die zur Herstellung übelriechender Fischspezialitäten skandinavischer Provenienz gezwungen werden – sondern zugleich auch eine Chronik der Foodie-Kultur, welche in dieser Gegend der Vereinigten Staaten eine besonders große Rolle spielt. Und ganz am Ende geht es dabei natürlich um die starke Wechselwirkung von Essen, Familie und den wichtigsten Momenten in unseren Leben.

Zentraler Charakter hierbei ist Eva Thorvald, eine vom Thema „Food“ in gewisser Weise besessene junge Frau, die sich völlig ungeplant zu Amerikas berühmtester Köchin entwickelt. Dieser recht ungewöhnliche Weg wird in einer Abfolge von acht miteinander verbundenen Geschichten durch die jeweiligen Perspektiven verschiedener Figuren geschildert. Evas Rolle verändert sich dabei, je nachdem, wer gerade welche Episode erzählt. Einmal ist sie das Objekt großer Liebe, ein anderes Mal großer Verachtung, Neid oder auch Bewunderung.

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Es klingelt an der Türe, ich öffne und Joachim Lottmann steht davor. Er geht grußlos an mir vorbei (vorüber?) in die Wohnung, zielstrebig in Richtung des Badezimmers, wo er ein Vollbad einlässt und für die folgenden zwei Stunden sich in selbiges hineinverbringt. Nach Ablauf besagten Zeitraums trocknet er sich ab, zieht seine Kleidung an und verschwindet wieder, erneut grußlos, aber nun angenehm duftend, im Treppenhaus.

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Olivetti, rot

Mitte der 1960er Jahre begann sich in den USA eine journalistisch-literarische Strömung zu entwickeln, die man mittlerweile rückwirkend mit dem Begriff „New Journalism“ etikettiert. Junge Autoren wie Tom Wolfe, Norman Mailer, Truman Capote, Joan Didion und Hunter S. Thompson nahmen die strenge Trennung von Fakten und Fiktion nicht mehr allzu ernst und begriffen die journalistische Darstellung tatsächlicher Ereignisse eher als Ausgangsmaterial, das sie mit literarischen Techniken wie dialogischem Erzählen, detaillierten Szenenkonstruktionen oder auch freien Gedankenassoziationen anreicherten. Plötzlich wurden die starren Grenzen zwischen Journalismus und Literatur – vielleicht auch zwischen Schreiben und Leben selbst – fließend. Besser schreiben hieß: näher „dran zu sein“ und für das Erlebte eine aufregende, neue Sprache zu finden.

Zudem kannten die Akteure des „New Journalism“ keine Berührungsängste mit der amerikanischen Alltags- und Populärkultur; sie machten sie vielmehr zu ihrem Gegenstand. Naturgemäß wurde das neue Genre vom konservativen Journalismus verdammt, da es mit heiligen Grundsätzen der Branche brach, mit Ausgewogenheit, Objektivität und kritischer Distanz.

Während in den USA der Journalismus derart ein wenig entstaubt wurde, verließ der 1952 geborene Helge Timmerberg die Schule mit der mittleren Reife, um anschließend von Bielefeld nach Indien zu trampen, wo er in einem Ashram im Himalaja beschloss, Journalist zu werden. Nach seiner Rückkehr begann er 1972 ein Volontariat bei der Neuen Westfälischen Zeitung in Bielefeld und landete schließlich beim Stern. Während dieser Zeit entdeckte er Fear and Loathing in Las Vegas von Hunter S. Thompson, das ihn nachhaltig beeindruckte. In den folgenden Jahren reiste und schrieb Timmerberg für Publikationen wie Wiener, Playboy, Bunte und – Tempo.

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